Julius Hirsch –
7. April 1892 in Achern – wahrscheinlich 1943 ( zum 8. Mai 1945 für tot erklärt)
von Werner Skrentny
„Das Schicksal von Julius Hirsch darf nicht in Vergessenheit geraten. Es ist erschütternd, sich vorzustellen, dass einem Menschen – vorher noch umjubelt wegen seiner Tore – vom einen auf anderen Tag auf der Straße ausgewichen wird.“
(der ehemalige DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger, der es sich zu einem Hauptanliegen gemacht hatte, die oft unrühmliche Vergangenheit des Verbandes aufzuarbeiten).
Er erzielte als erster deutscher Fußball-Nationalspieler in einem Länderspiel vier Tore. Das war 1912 beim 5:5 gegen Holland in Zwolle (ein weiterer Treffer ging auf das Konto von Gottfried Fuchs vom KFV).
Er wurde als erster Spieler mit zwei Vereinen Deutscher Meister: 1910 mit dem KFV und 1914, als Spielführer, mit der SpVgg Fürth.
Er war dabei, als Deutschlands Fußballer 1912 erstmals an den Olympischen Spielen teilnahmen, in Stockholm.
War Julius Hirsch also ein früher Fußball-Star? Zumindest taucht sein Porträt 1925 auf dem Zigaretten-Sammelbild Nr. 303 der Berliner Firma Manoli auf. Das war zu einem Zeitpunkt, als er seine Laufbahn ausklingen ließ. Wohl aber schien sein Nachruhm damals noch zu wirken.
Mitte der 1920er Jahre nämlich hatte sich der Fußball zum Massensport entwickelt. Durch die Förderung des Militärs im 1. Weltkrieg, aufgrund des Acht-Stunden-Arbeitstags und weil die Medien ihm viel mehr Aufmerksamkeit widmeten. Neue Idole waren angesagt: „Tull“ Harder, der hünenhafte Mittelstürmer des Hamburger SV, oder „Heiner“ Stuhlfauth, Schlussmann des 1. FC Nürnberg.
Julius Hirsch, der Karlsruher Kaufmann, dagegen gehörte zu den Pionieren der damals noch jungen Sportart von der britischen Insel. Namhaft war er damit in einer Zeit, als die Anhängerschar im Fußball noch überschaubar war (wobei Karlsruhe oft Besucherrekorde meldete!). An sich hätte er als Bub’ den Klavierunterricht aufsuchen sollen, doch entschied er sich fürs Fußballspiel auf dem legendären „Engländerplatz“, dem „Engländerle“, in Karlsruhe.
„Knirps auf Linksaußen“
Es ist ein Glücksfall der deutschen Fußballgeschichte, dass Aufzeichnungen zu seiner sportlichen Laufbahn im Familienbesitz erhalten geblieben sind. Nieder geschrieben hat die 1938 in seinem letzten Aufsatz im Realgymnasium Goetheschule Karlsruhe, das er aus rassischen Gründen verlassen musste, Julius’ Sohn Heinold (1922-1996), damals 16 Jahre jung: „Auf dem „Engländerle“ verbrachte ich (Anm.: Julius Hirsch) den ersten Teil meiner Jugend, trotz Schlägen und Strafen, die ich für meine so „sauberen“ Hosen und Strümpfe bekam (…) Man stellte anfangs den noch kleinen Knirps auf Linksaußen (also gewissermaßen kalt), und daraus entwickelte sich später der Linksaußen oder Linksinnen Deutschlands.“
Heinold, das wurde bereits erwähnt, durfte ebenso wie die Hirsch-Tochter Esther (1928-2012) in der NS-Zeit aufgrund der jüdischen Abstammung die Schule nicht mehr besuchen.
Zu Julius Hirsch und Gottfried Fuchs vom KFV wird oft angemerkt: „Es gab nur zwei Juden in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft“ (Hervorhebung vom Autor). Dies hat damit zu tun, dass der Fußballsport in seinen Anfängen ausschließlich von Akademikern (!), Studenten und höheren Schülern betrieben wurde. Tatsächlich aber gab es weitere herausragende Spieler, Sportlerinnen und Sportler jüdischen Glaubens, die der NS-Ideologie vom „schwächlichen Juden“ widersprachen.
„Der spielt jetzt immer!“
Julius Hirsch, geboren 1892, die Eltern besaßen ein Textilgeschäft in der Kaiserstraße, schloss sich mit zehn Jahren dem Karlsruher FV an. Das Debüt 1909 in der 1. Mannschaft beim 4:0 gegen den Deutschen Ex-Meister Freiburger FC hat sein Sohn Heinold aus der Sicht des Vaters wie folgt geschildert: „Beim Spiel gegen Freiburg fehlte der damals schon etwas alten Mannschaft des KFV ein Linksaußen (…) Man kann sich denken, ich hatte schon ein bisschen Herzklopfen, als ich zum ersten Mal unter lauter so berühmten Namen spielte, aber bald spielte ich wie sonst und schoss auch ein Tor. Nach dem Spiel sagte der damalige Trainer Townley: „Dieser Linksaußen spielt jetzt immer!“ und trotz der Einwendungen der „Alten“ verjüngte er dann langsam den KFV.“
Das geschah am 6. März 1909. Sein erstes Tor, da trog die Erinnerung fast drei Jahrzehnte danach, erzielte der „Juller“, wie er von den Sportfreunden und Anhängern genannt wurde, allerdings „erst“ im Mai 1909 beim 4:0 gegen Alemannia Karlsruhe.



Fehlt ein Länderspiel-Tor?
Abgesehen davon, dass Hirsch von da an einen Stammplatz in der „Ersten“ des KFV in der damaligen deutschen Fußball-Hochburg Karlsruhe besaß, erst auf Linksaußen, später als Halbstürmer und Spielmacher, erntete er rasch die Meriten seines Könnens. Der 1.68 Meter große Stürmer galt als schnell und trickreich, „links wie rechts treffsicher“, was auch überregional auffiel. Es gab damals keinen Bundestrainer wie heute, man erachtete die Entfernungen im Kaiserreich als zu groß. Die Nationalelf stellte ein Spielausschuss, mal in Karlsruhe, mal in Hamburg ansässig, zusammen. „Juller“ Hirsch bestritt von 1911 bis 1913 sieben Länderspiele und erzielte vier Tore. Wobei man letztere Angabe hinterfragen muss: Mindestens zwei Zeitungen berichten, nicht Kipp (Stuttgarter Kickers) hätte 1913 in Freiburg das 1:2 gegen die Schweiz erzielt, sondern der Karlsruher.
Als Hirsch zur Saison 1913/14 vom Deutschen Ex-Meister KFV zur SpVgg Fürth wechselte, ging das ohne jegliche Aufregung vonstatten. Die „Kleeblättler“ aus Franken kamen zum Ablösespiel in die damalige badische Residenz, man hängte Hirsch zum Abschied einen riesigen Lorbeerkranz um. Denn es waren berufliche Gründe, die ihn zum Fortgang bewegt hatten. Ehemals Lehrling in der Lederhandlung Freund und Strauss in der Karlsruher Kreuzstr. 31, hatte er als Kaufmann eine Anstellung in der zeitweise weltweit bedeutendsten Spielzeugfabrik Gebrüder Bing in Nürnberg gefunden. Eine Rolle mag auch gespielt haben, dass sein früherer Karlsruher Trainer William Townley in Fürth arbeitete und die SpVgg sich gezielt um Verstärkungen von außerhalb bemühte.


Sogar auf Zelluloid sind der KFV und Julius Hirsch im ältesten erhaltenen deutschen Fußballfilm in ihren Glanzzeiten einmal verewigt worden: Am 1. Mai 1910 im DM-Halbfinale beim 2:1 gegen den Stadtrivalen Phönix auf dem KFV-Platz. Das war bereits 2001 in „Das große Buch der deutschen Fußballstadien“ zu lesen. Dennoch wurde der dreiminütige Film im Januar 2014 als „Sensationsfund“ publiziert.
Müssen wir nun noch einmal das Wörtchen „nur“ bemühen? Denn mehr als sieben Länderspiele hätten es sein können. Doch begann 1914 der 1. Weltkrieg; die deutsche Länderspiel-Pause währte von April 1914 bis Juni 1920. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass Militär-Angehörigen – Hirsch leistete seinen einjährigen Dienst 1912/13 beim Badischen Leib-Grenadier Regiment 109 in Karlsruhe, dass die Schloss-Wache stellte – keine fußballerischen Auslands-Reisen erlaubt waren.
Der 1. Weltkrieg begann am 1. August 1914, sechs Tage später wurde Julius Hirsch in Bayern Soldat. Sein Elternhaus war deutschnational eingestellt und Vater Berthold hatte 1870/71 am Krieg gegen Frankreich teilgenommen. Der Sohn verbrachte den Krieg vor allem in der Etappe, als Schreiber und Dolmetscher. Vizefeldwebel war sein letzter Rang, er erhielt das Eiserne Kreuz II. Klasse sowie die Bayerischen Dienstauszeichnung. Am 9. November 1918 endete die Herrschaft von Kaiser Wilhelm II und am 18. November konnte Hirsch das Militär verlassen. Infolge einer Verletzung spielte er aber erst wieder ab März 1919 bei der SpVgg Fürth, ehe er nach Karlsruhe heimkehrte.
Die elterliche Firma hatte sich als „Deutsche Signalflaggenfabrik Gebr. Hirsch & Co“ auf Militär-Zubehör spezialisiert. Dies war mit Kriegsende hinfällig, weshalb man sich als „Sigfa Sport“ auf die Herstellung und den Vertrieb von Sportartikeln verlegte. Julius und sein Bruder Max wurden 1926 als Geschäftsführer bestellt. Die Firma florierte, man produzierte sogar einen Fußball „Marke Hirsch“, um den Bekanntheitsgrad des Nationalspielers zu nutzen. Hirsch hatte 1920 die Modistin Ellen Hauser, Direktrice in der Textilbranche, geheiratet, die aus diesem Anlass zum jüdischen Glauben übertrat. Sohn Heinold wurde 1922 geboren, die Tochter Esther 1928. Beide erinnerten sich an einen liebevollen Vater voller Zuwendung. Hirsch besaß ein Auto der Marke „Wanderer“, die Familie lebte in einer geräumigen Wohnung Kaiserallee 123. Übrigens unweit des Viertels, in dem die weit verzweigte Familie der „Holz-Füchse“ ansässig war, aus der sein Mitspieler Gottfried Fuchs stammte.
Zurück beim KFV: „Geradezu unverwüstlich“
Julius Hirsch stand mit nunmehr 27 Jahren dem KFV wieder zur Verfügung und wurde als „1. Spielführer“ gewählt (Bruder Rudolf war Kassenwart des Vereins, ab 1924 Vorsitzender des Spielausschuss, dem auch „Juller“ angehörte). Nach wie vor war er eine bedeutende Person auf dem Platz: „Der alte Internationale ist geradezu unverwüstlich“, meldete die führende Fachzeitschrift „Fußball“ 1920. „Der Rasensport“ zwei Jahre darauf: „Hirsch spielte wie in seinen besten Tagen.“ 1923 wurde er sogar noch einmal in die Auswahl von Süddeutschland berufen. Das Mannschaftsfoto zeigt einen körperlich etwas fülligeren Akteur, womöglich war Hirsch als Lokalmatador Ersatz, doch erzielte er beim 3:3 gegen die Zentralschweiz auf dem Phönix-Platz von Karlsruhe ein Tor. 1924 stieg der KFV in die 2. Liga, die damals Kreisliga Mittelbaden hieß, ab. Hirsch stand auch in dieser Klasse dem Verein noch einmal zur Verfügung, ehe er mit dem Wiederaufstieg 1925 die Laufbahn beendete (abgesehen von folgenden AH-Begegnungen).
Es wird fälschlicherweise oft berichtet, Julius Hirsch habe mit der NS-Machtübernahme 1933 den Karlsruher FV verlassen müssen. Inwiefern die Mitglieder jüdischen Glaubens nicht mehr Mitglied sein konnten, wird an anderer Stelle berichtet (siehe Kapitel zum Nationalsozialismus).
„Entfernung der Juden aus den Sportvereinen“
Tatsächlich hatte Hirsch seine Mitgliedschaft nach 31 Jahren aufgekündigt.
Der Anlass war eine Meldung im Stuttgarter „Sportbericht“, wonach am 9. April die teilnehmenden Vereine an der Süddeutschen Meisterschaft – darunter der KFV, Phönix Karlsruhe und die SpVgg Fürth – beschlossen hatten, „alle Folgerungen, insbesondere in der Frage der Entfernung der Juden aus den Sportvereinen, zu ziehen.“
Bereits am 1. April hatte auch in Karlsruhe der sog. Judenboykott stattgefunden („Kauft nicht beim Juden!“; „Wer jetzt noch zum Juden geht, ist ein Verräter an seinem Volke“). An der „Riesenkundgebung am Marktplatz“, Samstag, 17 Uhr, nahmen 25.000 Menschen teil.
Julius Hirsch wartet nicht ab, ob ihn auch „die Entfernung der Juden aus den Sportvereinen“ betrifft, sondern verfasst einen Brief. Dieser gehört zu den bemerkenswertesten Zeugnissen deutscher Fußball-Geschichte (Auszüge):
„Leider muss ich nun bewegten Herzens meinem lieben KFV meinen Austritt anzeigen. Nicht unerwähnt möchte ich aber lassen, dass es in dem heute so gehassten Prügelkinde der deutschen Nation auch anständige Menschen und vielleicht noch viel mehr national denkende und auch durch die Tat bewiesene und durch das Herzblut vergossene deutsche Juden gibt.“
Julius Hirsch hat Deutschland als Fußballer vertreten, auch Süddeutschland und „seinen“ KFV. Die Ausgrenzung als Mensch jüdischen Glaubens durch die neuen Machthaber und große Teile der Bevölkerung sind für ihn als deutschnational denkenden Bürger inakzeptabel. Leopold, sein ältester Bruder, der ebenfalls beim KFV spielte, kam 1918 am Kemmelberg in Nordwestflandern als Infanterie-Leutnant ums Leben. „Gefallen auf dem Feld der Ehre“, schreibt Julius an den KFV. Bruder Max lebt bei Kriegsbeginn 1914 in der neutralen Schweiz. Obwohl er nur auf einem Auge sehen kann, meldet er sich als Kriegsfreiwilliger. Ein weiterer Bruder von Julius, er heißt Rudolf, ist „im Felde von 1914-1918 bei der bayr. Fliegenden Division Kneisel. Besitzer des EK I und der bayr. Tapferkeitsmedaille“ (Schreiben von Julius an den KFV).
Der Ex-Nationalspieler teilt seinem Stammverein auch mit: „Ich befinde mich z. Zt. In einer wirtschaftlichen prekären Lage.“ Denn in der Weltwirtschaftskrise hat die „Sigfa Sport“ ihre Eigenproduktion eingestellt, 1933 wird das Konkursverfahren eröffnet. Julius Hirsch, Geschäftsführer und Reisevertreter, ist jetzt arbeitslos. Von der Kaiserallee 123 zieht die Familie in eine preiswertere Wohnung in der Murgstr. 7 im Karlsruher Stadtteil Weiherfeld um.
Der Altinternationale findet für die Spielzeit 1933/34 eine Anstellung als Trainer bei der FA Illkirch-Graffenstaden nahe Straßburg im Nachbarland Frankreich. Nach der Saison kehrt er heim nach Karlsruhe, wo Juden ausschließlich in jüdischen Sportvereinen aktiv sein können. Da er Mitglied im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) ist, schließt sich der einstige Meisterspieler dem Turnclub 03 Karlsruhe im Sportbund Schild an und nicht der zionistischen Hakoah Karlsruhe.
Spieler/Trainer im jüdischen Turnclub
Julius Hirsch arbeitet als Fußball-Trainer in dem jüdischen Verein und spielt auch mit mehr als 40 Jahren weiterhin aktiv. Der „Judensportplatz“ liegt dabei direkt neben dem KFV-Stadion. 1935 hält Hirsch einen Vortrag im Verein, der überliefert ist („Aus meiner Fußballzeit“). Den Schlusssatz hat er rot durchgestrichen: „Ich schließe meine Ausführungen mit dem Wunsche, dass der jüdische Sport blühen, wachsen und gedeihen möge.“
Seit 1934 arbeitet er als „Vertreter in Manufakturen und Wäsche“, also Reisender. „Wir kennen die Leute heute noch genau, die ihm damals etwas abgekauft haben“, sagte Sohn Heinold 1992 in einem Interview, doch leider sind keine Unterlagen erhalten geblieben. Denn möglicherweise gehörten zu den Abnehmern auch Fußball- und Sportfreunde. Seit 1937 ist Hirsch als Lohnbuchhalter und Hilfsplatzmeister der jüdischen Firma Vogel & Bernheimer AG in deren Dependance Maxau beschäftigt. Bis 1938, dann ist er nach der „Arisierung“ der Firma erneut arbeitslos. Die stellt dem Kaufmann noch ein Zeugnis aus: „Sein Fleiß und sein persönliches Verhalten waren stets einwandfrei.“
Es gibt Zeitzeugen-Berichte, nach denen vor dem KFV-Stadion ein Schild stand: „Juden unerwünscht!“ Und es gibt Aussagen, nach denen ehemalige KFVler die Straßenseite wechselten, wenn sie Hirsch sahen.
Das andere Karlsruhe
Jedoch: auch Anderes ist zu berichten. Fritz Tscherter (1888-1963), der mit Hirsch 1910 die Deutsche Fußball-Meisterschaft für den KFV gewann, unterstützte aus der bedeutendsten Karlsruher Kohlenhandlung heraus die Familie in Weiherfeld mit Brennmaterialien. Und auf dem KFV-Platz ließ ihn der ehemalige Nationalspieler Lorenz „Lora“ Huber (1906-1989) ein. „Eier-Huber“, in dessen Geschäft Hirsch gelegentlich aushalf, versorgte die Familie Hirsch mit Lebensmitteln. Das Schokoladengeschäft von Mina Rabe, Kaiserstr. 225 im Karlsruher Zentrum, diente als Treffpunkt der von der sog. Mischehe Betroffenen. FIFA-Generalsekretär Dr. Ivo Schricker (1877-1962), ein Hauptakteur früherer Karlsruher Fußball-Tage, setzte sich ebenfalls für Hirsch ein. Einiges deutet darauf hin, dass dies auch der spätere DFB-Präsident Dr. Peter Josef „Peco“ Bauwens (1886-1963) tat.
Hätte Julius Hirsch flüchten können aus Deutschland? 1936 besucht er seine Schwester Anna in Luzern. Die Schweiz steht jüdischen Emigranten meist ablehnend gegenüber. Sohn Heinold Hirsch im Interview 1992: „Dadurch, dass wir kein Geld hatten, gab es für uns auch keine Chance auszuwandern, denn jeder, der auswandern wollte, brauchte eine Bürgschaft.“
1938 besucht Julius seine Schwester Rosa in Paris. Er spricht fließend Französisch und er hofft auf Arbeit. Letztmals trifft er in der französischen Hauptstadt seinen früheren Mitspieler aus der Nationalelf und vom KFV, Gottfried Fuchs. Und zum letzten Mal sieht er seinen Schwager Louis Einstein, den Ehemann von Rosa. 1944 wird die SS den 73-jährigen in Chateau l’ Eveque in der Dordogne ermorden.
Verschollen in Frankreich
Am 3. November 1938 verlässt Julius Hirsch mit dem Zug Paris, kommt aber nicht in Karlsruhe an. Anderthalb Monate lang ist er verschollen. Bis Mitte Dezember 1938 das Hospital Psychatrique de la Meuse aus Fains-les Sources in Lothringen die Familie in Karlsruhe informiert: Der verzweifelte Ehemann und Vater hat versucht, sich in einem Steinbruch bei Commercy das Leben zu nehmen. Erst im Februar 1939 kehrt Julius Hirsch nach Karlsruhe zurück.
Als am 23./24. Oktober 1940 die erste Deportation jüdischer Deutscher – die „Ostmark“ bzw. Österreich seien hier ausgenommen – in Baden, der Pfalz und dem Saarland für 6.504 Menschen durchgeführt wird, ist Julius Hirsch nicht betroffen. Ehefrau Ellen gilt nach der NS-Ideologie als „Arierin“ bzw. „deutschblütig“, womit Hirsch in einer sog. Mischehe lebt.
Es gibt Überlegungen zur Flucht in die Schweiz, mit Hilfe von Georg Böttger, dem Leiter des Postscheckamtes Karlsruhe (G. B. war Spielausschussvorsitzender des KFV und spielte nach Kriegsende für seinen Verein noch in der Oberliga Süd). Doch Hirsch findet sich frühmorgens nicht am Kurierfahrzeug, das bei Abfahrt versiegelt wird, ein. Er fürchtet, die Nazis würden sich an seiner zurück gebliebenen Familie rächen.
Um die Kinder Heinold und Esther zu schützen (ein vergeblicher Versuch, dies vorweg), wird die Ehe zwischen Julius und Ellen Hirsch 1942 geschieden.
Seit 1939 setzt das Städtische Tiefbauamt Karlsruhe den Kaufmann auf einem Schuttplatz am Stadtrand – dort, wo sich heute „XXXL Mann-Mobilia“ befindet -, als Zwangsarbeiter ein. Ellen Hirsch sagt Tochter Esther: „Dein Vater muss mit den Ratten da draußen leben.“ Ab 1. September 1941 müssen der Vater und die beiden Kinder das Zwangskennzeichen Judenstern tragen.
Nach der Scheidung muss Hirsch, er gilt als „Volljude“, in ein sog. Judenhaus Kronenstr. 62 (zerstört) ziehen, hält aber weiterhin täglich Kontakt zur Familie in Weiherfeld. Am 18. April 1943 werden die Kinder Heinold und Esther evangelisch getauft. Dies ist nicht selbstverständlich in diesen Zeiten, weshalb Ludwig Dreher, der Pfarrer der Melanchthongemeinde Beiertheim-Bulach, hervorzuheben ist.
Die Deportation
Die „Mischehe“ „schützt“ Julius Hirsch nun nicht mehr. Am Morgen des 1. März 1943 muss sich Julius Israel Hirsch (der zwangsweise Beiname ist seit Januar 1939 Vorschrift) auf dem Hauptbahnhof Karlsruhe zum „Abwanderungstransport“ einfinden. Leopold Ransenberg von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Bezirksstelle Baden-Pfalz, begleitet ihn ebenso wie die 14-jährige Tochter Esther, die sich später erinnerte: „Es war ein strahlend schöner Tag. Noch heute kann ich nicht begreifen, dass an diesem Tag die Sonne scheinen konnte! Wir haben nicht geglaubt, dass wir ihn nie mehr wiedersehen werden.“
Esther erlebt noch, wie ihr Vater „ein normales Zugabteil“ der Deutschen Reichsbahn II. Klasse besteigt. Mit ihm deportiert die Gestapo weitere acht Personen aus Baden.
Die Reichsbahn fährt auch in Kriegszeiten pünktlich. Der nächste Halt ist außerhalb der Stuttgarter Innenstadt der Innere Nordbahnhof, wo 44 schwäbische Jüdinnen und Juden zusteigen müssen. Es folgen die Stationen Trier und Güterbahnhof Düsseldorf-Derendorf, danach der Dortmunder Südbahnhof. Dort gelingt es Julius Hirsch, eine Postkarte zum 15. Geburtstag der Tochter Esther auf den Weg zu bringen: „Meine Lieben! Bin gut gelandet, es geht gut. Komme nach Oberschlesien, noch in Deutschland. Herzliche Grüße und Küsse euer Juller.“ Dies ist nicht ungewöhnlich: vielen Deportierten glückte es noch, einen letzten postalischen Gruß auf den Weg zu bringen.
In Dortmund ist die Sammelstelle für Juden die Turnhalle des TV Eintracht (im Krieg zerstört). Ob ausgerechnet der ehemalige Sportsmann und Nationalspieler Julius Hirsch dort übernachten musste, ist ungewiss. Wohl aber weiß man, dass Hirsch den Transport nun in geschlossenen Güterwaggons, auch als „Viehwaggons“ bezeichnet, fortsetzen musste. Der „Sonderzug“ hält noch am Güterbahnhof von Bielefeld, fährt dann weiter nach Hannover. Zeitzeugen-Berichte:
„Die Insassen saßen dicht gedrängt. Die Waggontüren waren von außen verriegelt. Als Sitzgelegenheit dienten die Koffer. In einer Ecke des Waggons stand ein Eimer, der als Toilette benutzt werden sollte. Am Anfang des langen Zuges und am Ende war jeweils ein Personenwaggon für die SS. In jedem Bremserhäuschen der Waggons saß ein Bewacher.“
Am späten Nachmittag des 3. März 1943 trifft der Transport mit 1.500 Menschen in Auschwitz-Birkenau ein.
Das Eingangsbuch des Vernichtungslagers führt 150 Männer auf.
Der Name von Julius Hirsch ist nicht darunter.
Was bedeutet, dass er unmittelbar nach Ankunft in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde.
Am 14. Februar 1945 findet die letzte Deportation in Karlsruhe statt, wiederum vom Hauptbahnhof. Daran erinnert seit 2015 ein Mahnmal in Form einer informativen Stele. Die Hirsch-Kinder Heinold (22) und Esther (16) treffen zwei Tage später im KZ Theresienstadt (heute Terezín, Tschechien) ein. Nach der Terminologie der Diktatur sind sie trotz der evangelischen Taufen „Geltungsjuden“ bzw. „Mischlinge zweiten Grades“, da ein Teil ihrer Großeltern jüdisch sind. Beide überleben und kehren am 16. Juni nach Karlsruhe zurück. Viele Jahre später hat Esther Hirsch aufgeschrieben: „Wäre Vater noch verheiratet gewesen, wäre er mit dem gleichen Transport wie wir nach Theresienstadt gekommen.“ Denn dorthin deportiert wurde auch Max Hirsch, der Bruder von Julius, verheiratet mit einer evangelischen Frau.
„Wir suchen: Juller Hirsch vom Karlsruher Fußball-Verein“
Mit dem Ende der Diktatur gilt der frühere Nationalspieler als vermisst. U. a. über den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes im Rundfunk lässt sein Sohn verlauten: „Wir suchen: Hirsch, Julius (…) durch die Gestapo deportiert ab Karlsruhe 1.3.1943, letzte Nachricht von Dortmund 4.3.1943. Von dort Sammeltransport vermutlich Auschwitz. Ist weit bekannt als Juller Hirsch vom Karlsruher Fußball-Verein (…) Sofort Nachricht geben, durch Post oder Radio (…) oder an die Sammeladresse Heino Hirsch, Karlsruhe, Kandelstr. 2.“
Das Amtsgericht Karlsruhe erklärt 1950 Julius Hirsch für tot. Das Sterbedatum wird auf den 8. Mai 1945, 0 Uhr, festgelegt – der Tag, an dem Deutschland kapituliert hat.
Die frühere Ehefrau, die beiden Kinder, die Enkel und Nachkommen werden niemals ein Grab vorfinden, an dem sie trauern können.
Abgesehen von wenigen Erwähnungen geraten Julius Hirsch und seine Ermordung in Vergessenheit. Der Sportjournalist Joseph Michler schreibt 1951 vom „Martertod dieses großen Sportmanns“. Es ist derselbe Michler, der ihn als „kicker“-Redakteur in der NS-Zeit in Publikationen weitgehend verschwieg.
Falsche – oder keine Angaben
Als sich der DFB 1949 in Stuttgart-Bad Cannstatt neu gründet, werden jüdische Fußballer nicht erwähnt. Die offizielle DFB-Geschichte von 1954 listet Julius Hirsch als „gestorben 1939/45 im Getto“ auf. Als 1966 das WM-Album der Firma „Aral“ erschien, las man darin, Hirsch sei am 6. Mai 1941 im KZ Auschwitz umgekommen. Die in der DDR sehr aufwändig recherchierte Geschichte „Fußball in Vergangenheit und Gegenwart, Band I“, erwähnt jüdische Fußballer und damit auch Hirsch an keiner Stelle. Viele Hinweise auf ihn hatte dagegen Josef Werner (1914-2015) in seinem Standard-Werk „Hakenkreuz und Judenstern“ über die Karlsruher Jüdinnen und Juden publiziert. Die, wie sich später heraus stellen sollte, unzutreffenden Angaben waren Anlass für den Autor, sich bei seinen Recherchen zum Buch „Als Morlock noch den Mondschein traf. Die Geschichte der Oberliga Süd 1945-1963“ (1993, 2. Aufl. 2001) mit der Biografie von Julius Hirsch zu befassen. Die wichtigsten Informationen waren vom Sohn Heinold zu erfahren, der sich offensichtlich darüber freute, dass sich jemand für seinen Vater interessierte. Wir fuhren zum Jüdischen Friedhof und Heinold Hirsch meinte damals: „Der DFB müsste mal etwas tun. Eine Erinnerungstafel oder so.“
Im damals noch existenten Vereinsheim des Karlsruher FV hing das großformatige Foto der Meistermannschaft von 1910: Hirsch guckt darauf etwas verschüchtert – eben der Kleinste und Jüngste der Elf. Das erste Karlsruher Kriegerdenkmal nach dem 1. Weltkrieg stand seinerzeit ebenfalls noch unversehrt beim Klubheim. Damit wurde der KFV-Kriegstoten gedacht – nicht aber Julius Hirsch. Die Veröffentlichung des erwähnten Beitrags „Der Tod des Juller Hirsch“ im Oberliga Süd-Buch war für das Bildungszentrum Pfinztal in Pfinztal-Berghausen Anlass, den Namen „Julius-Hirsch-Stadion“ vorzuschlagen. Dies wurde abgelehnt, doch erhielt die Schulsporthalle 1999 durch einen einstimmigen Beschluss des Gemeinderats den Namen „Julius-Hirsch-Halle“.
Die Stadt Karlsruhe aber war mit der Erinnerung an einen ihrer berühmtesten Fußballspieler nach wie vor außen vor. Mit den Jahren nahmen die Veröffentlichungen zu Hirsch zu. Die Schülerin Alexandra Syré (2003) und ihr Vater Ludger Syré (2005) verfassten Beiträge. Swantje Schollmeyer folgte mit einer Broschüre in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ 2007. Im Jahr darauf gab das Stadtarchiv Karlsruhe die studentische Arbeit „Julius Hirsch. Ein deutscher Fußballnationalspieler jüdischer Herkunft aus Karlsruhe“ von Gideon Thönnissen heraus. Ernst Otto Bräunche, Leiter des Stadtarchivs Karlsruhe, befasste sich im Band „Sport in Karlsruhe“ (2006) mit der „Fußballhochburg Karlsruhe“ und den beiden jüdischen Nationalspielern.
Der „Julius Hirsch Preis“
Die herausragendste Würdigung erfuhr der ehemalige Internationale mit dem 2005 erstmals verliehenen „Julius Hirsch Preis“ des DFB „für besonderen Einsatz für Freiheit, Toleranz und Menschlichkeit und gegen nationalsozialistische, rassistische, fremdenfeindliche und extremistische Erscheinungsformen.“ Wie eingangs erwähnt, ist diese Initiative dem früheren DFB-Präsidenten Dr. Theo Zwanziger gut zu schreiben, unterstützt von anderen Funktionären. Nachfolger Wolfgang Niersbach, inzwischen nicht mehr im Amt, nahm sich ebenfalls persönlich der Preisverleihung an. Der Julius Hirsch Preis wurde 2015 zum zehnten Mal vergeben. Der Anlass ist jeweils ein Länderspiel der Nationalmannschaft. Leider hatten die „BNN“ in ihrer Berichterstattung den „Julius Hirsch Preis“ lange negiert. Mit der Benennung der Julius-Hirsch-Straße und des Gottfried-Fuchs-Platz unweit des früheren KFV-Stadions auf Anregung der CDU Karlsruhe-West und infolge eines einstimmigen Beschlusses der Gemeinderats bekannte sich die Stadt endlich 2013 zu zweien ihrer bekanntesten Fußballer, nachdem dort bereits eine Stele des Stadtarchivs gesetzt worden war. Einen Stolperstein am letzten freiwilligen Wohnort Murgstr. 7 in Weiherfeld ließ eine unbekannte Person setzen.
In Fürth, wo Hirsch die Spielvereinigung 1914 zur Deutschen Meisterschaft führte, wird 2016 eine Großsporthalle nach ihm benannt. Dank einer Bürgerinitiative, deren Vorschlag vom Stadtrat einstimmig angenommen wurde.
Im Ende 2015 eröffneten Deutschen Fußball-Museum Dortmund wird Julius Hirsch gewürdigt. Der Autor, der 2012 die Biografie „Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet“ veröffentlichte, hat inzwischen in mehr als 30 Veranstaltungen dazu berichtet: In Schulen, bei den Ultras, Fan-Initiativen, in Jüdischen Gemeinden, Historischen Vereinen, Gedenkstätten, Fußball-Museen etc.
Leider hat sich bislang in keiner Karlsruher Schule eine solche Gelegenheit ergeben.



