Ernst Willimowski –
23. Juni 1916 in Kattowitz – 30. August 1997 in Karlsruhe
von Thomas Staisch
Die Meldung in der „Kleinen Sportecke“ der Badischen Presse vom Januar 1944 war nur fünf Zeilen kurz, aber eine echte Sensation. Dort wurde verkündet, dass ein gewisser Willimowski vom Polizeisportverein Chemnitz seine Garnisonszeit in Karlsruhe verbringen und als Gastspieler beim KFV mitwirken werde – am 16. Januar sei sein erster Einsatz beim „Privatspiel“ gegen Forchheim geplant. Was damals bekannt war, heute aber fast völlig vergessen ist: Ernst Willimowski war ein echter Superstar des Fußballsports.
Das Leben des Rekord-Kickers und Paradiesvogels liest sich wie ein Hollywood-Drehbuch: Am 23. Juni 1916 wurde Willimowski (mit einem polnischen oder zwei deutschen „l“ geschrieben) als Ernst Otto Pra(n)della im damalig oberschlesischen Kattowitz geboren – mit sechs Zehen am linken Fuß. Die Behinderung erwies sich als Glücksfall: Obwohl er rechts härter schießen konnte, erzielte „Ezi“ die meisten Treffer mit seiner „Glückszehe“ – und das natürlich ohne Spezialschuh.
Willimowski wurde von seiner Mutter aufgezogen, der Vater war im Weltkrieg gefallen, und erhielt den Nachnamen seines Stiefvaters. Das Supertalent heuerte beim „deutschen Club“ 1. FC Kattowitz an, wo er bis 1934 bereits Tore im Akkord schoss. Der große Durchbruch kam mit dem Wechsel zum heutigen Ruch Chorzów (deutsch: Königshütte), wo er in 86 Spielen 112 Treffer erzielte. Lohn der Mühe: Als polnischer „Ernest“ wurde er 1934 und 1936 Torschützenkönig, gewann mit seinem Team von 1933 bis 1939 in Folge die Meisterschaft. Für den Vereinswechsel hatte Kattowitz 1000 Zloty erhalten – damals das Jahresgehalt eines Briefträgers. „Er hat einfach immer Fußball gespielt, hatte dadurch eine exponierte Stellung“, berichtete seine Tochter Sylvia.
Willimowski hatte viele Talente, er spielte in der oberschlesischen Eishockey-Auswahl und war Mitglied im Handball- sowie im Ski-Team. Bei einer Bergtour freundete er sich mit einem Skifahrer namens Karol Wojtyla an – der später als Papst Johannes Paul II. berühmt werden sollte. Ob mit oder ohne päpstlichen Segen, der „doppelte Ernst“ wurde 1934 mit 17 Jahren in die polnische Nationalmannschaft berufen, wo er auf (vermutlich) 25 Einsätze kam und dabei beeindruckende 25 Tore schoss. An seiner Treffsicherheit könnte ein kleines Heiligenmedaillon „Schuld“ gehabt haben, dass der abergläubische „Ezi“ bei jedem Match im Stutzen versteckte. Allerdings warf ihn der Verband 1936 auch für 12 Monate aus dem Kader – weil er zu viel feierte.
Weltweit bekannt wurde Willimowski durch das Achtelfinalspiel bei der Weltmeisterschaft 1938: Bei der 5:6-Niederlage nach Verlängerung gegen Brasilien holte der 22-jährige Oberschlesier nicht nur den Elfmeter zum 1:0 heraus, sondern traf zudem vier Mal – er schoss damit als erster Fußballer überhaupt vier Tore in einem WM-Spiel. Nachspiel: Partylöwe Willimowski war nach der Niederlage aus dem Mannschaftsquartier ausgebüxt und hatte in einem Nachtclub gefeiert – und dabei sowohl bei Racing Paris als auch bei zwei brasilianischen Vereinen Verträge unterschrieben. Der Legende nach soll er seine nackten Füßen auf den Tisch gepackt und den Gästen das Ergebnis des Spiels anhand seiner Zehen (5:6) gezeigt haben! Bei Tageslicht konnte sich der arme Ernst allerdings an nichts mehr erinnern und die polnischen Fußballfunktionäre dachten gar nicht daran, ihren Top-Stürmer wegzugeben – er musste zurück nach Polen.
Fußballerisch war der Rothaarige mit den Sommersprossen und den markanten Segelohren ein feiner Techniker, der seine Gegenspieler reihenweise mit Körpertäuschungen oder Drehungen narrte und dann entweder hart mit rechts, aber vor allem gefühlvoll mit links einnetzte – Kopfbälle vermied er fast völlig.
Nach der Besetzung Polens wurde der Oberschlesier Deutscher und nannte sich Ernst Willimowski. „Er hat sich nie viel aus Nationalitäten gemacht. Er war mal der Pole, mal Deutscher, so wie er am besten durchkam“, so Tochter Sylvia. „Ezi“ wechselte zum PSV Chemnitz und traf wie gewohnt nach Belieben: „Willimowski hat für Chemnitz schon so viel Tore geschossen wie oft ein Verein im ganzen Jahr zusammen“, wunderte sich das „Reichssportblatt“. Kein Wunder: Nach sieben Spielen hatte Ernst bereits 35 Tore erzielt.
Dann begann seine zweite Karriere: Sepp Herberger, der Willimowski beim 5:6 gegen Brasilien live gesehen hatte, berief den „Volksdeutschen“ 1941 in die Nationalmannschaft. Mit Erfolg: In acht Länderspielen erzielte er 13 Tore. Sein Geheimrezept? Vor jedem Spielen trank er Buttermilch und schlürfte rohe Eier! Laut der Biographie „Sport ohne Grenzen: Die Lebensgeschichte des Fußball-Altnationalspielers Ernst Willimowski“ (von seinem Schwiegersohn verfasst) musste „Ezi“ dabei ein bizarres Aufnahmeritual über sich ergehen lassen. Jedem Neuling wurde nämlich traditionell der „Heilige Geist“ verabreicht – in Form von Schlägen auf den nackten Po. Trotz der „Abreibung“ war Willimowski kaum zu bändigen. Obwohl ihn Herberger ständig ermahnte („Vor dem Spiel keine Liebe und kein Alkohol!“), war das Schlitzohr oft vor wichtigen Matches unterwegs. Aber egal was er angestellt hatte, das Tor-Phänomen war spätestens beim Anpfiff topfit. Besonders den starken Eidgenossen lehrte „Ezi“ das Fürchten: Gegen den berüchtigten „Schweizer Riegel“ traf er beim 5:3-Sieg gleich vier Mal – der Schweizer Torwart Erwin Ballabio soll sich danach beim Bankett aus Kummer fürchterlich betrunken haben.
Um dem Fronteinsatz zu entgehen, spielte der Wunderstürmer in der Soldatenelf „Die Roten Jäger“ (nach ihren roten Trikots so genannt), die sich der bekannte Jagdflieger Hermann Graf leistete. „Für mich der größte aller Torjäger“, urteilte Fußball-Legende Walter über seinen Mitspieler. Und: „Er hatte keine Nerven, er war eiskalt. Er war der einzige Stürmer, den ich je gesehen habe, der mehr Tore machte als er Chancen hatte“. Der Kontakt zu Graf rettete Willimowskis Mutter Pauline das Leben: Als sie nach einer Liebesbeziehung zu einem Juden nach Auschwitz abtransportiert wurde, konnte er ihre Entlassung arrangieren. Sie starb erst 1981 in Karlsruhe. Ende 1942 war der Jahrhundertfußballer bei 1860 München gelandet, wo er seinen Verein mit 13 Toren bis in Finale des „Tschammer-Pokals“ schoss (dem Vorgänger des DFB-Pokals) und dort vor 80.000 Zuschauern auch einen Treffer zum 2:0-Sieg gegen den Favoriten Schalke 04 beitrug. 14 Tore im Pokalwettbewerb – diesen Rekord hält Ernst Willimowski bis heute. Beim 15:1-Sieg im Achtelfinale gegen Straßburg hatte „Ezi“ allein sieben bis zehn Tore (je nach Quelle) beigesteuert.
Über seine Zeit beim KFV ist dagegen wenig überliefert. Immerhin wurde über Willimowskis Einsatz bei der Begegnung in Rastatt am 5. März 1944 berichtet: Beim letzten Gauligaspiel der Schwarzroten avancierte der Nationalspieler gleich zum Matchwinner – beim 4:3-Auswärtssieg steuerte „Willi“ drei Tore bei. Das NS-Presseorgan „Der Führer“ jubelte: „Entscheidenden Anteil des Erfolges der Gäste hatte zweifellos Willimowski, der alle seine Kameraden überragte, nicht nur, weil alle Direktiven von ihm ausgingen, sondern weil er darüber hinaus noch vollendete Fußballkunst mit allen Feinheiten demonstrierte, die ihn zum besten Spieler auf dem Platz stempelte“.
Nach Kriegsende tingelte Globetrotter Willimowski von Verein zu Verein (insgesamt ballerte er für knapp 20 Clubs), bevor er in Südbaden sesshaft wurde – 1949/50 wurde er Spielertrainer beim Offenburger FV, bis 1959 kickte er für den Kehler FV. Wie sehr Ernst den Fußball liebte, zeigt auch die Geschichte, dass er 1951 zu seiner Hochzeit mit dem Auto vom Training abgeholt werden musste!
Der „Deutsche aus Polen“, der im Nationaldress sowohl gegen Deutschland als auch für Deutschland spielte (also den weißen und den schwarzen Adler auf der Brust trug), konnte gar nicht aufhören zu spielen – und Tore zu schießen. 1955 wurde er mit 39 Jahren noch Torschützenkönig beim VfR Kaiserslautern in der Oberliga Südwest, die damals zur höchsten deutschen Spielklasse zählte. „Er konnte fast anderthalb Stunden auf dem Platz herumstehen und kaum etwas tun, um anschließend doch noch das entscheidende Tor zu schießen“, so Fritz Walter.
In Karlsruhe arbeitete er später bei den Pfaff-Werken und war auch öfters im Wildparkstadion zu sehen. Seinen Lebensabend verbrachte er mit seinen Katzen und Hund „Huskie“ – er starb am 30. August 1997 mit 81 Jahren, sein Grab ist auf dem Hauptfriedhof zu finden. In Polen galt er bis 1990 noch als „Vaterlandsverräter“, sein Name und seine Tore wurden aus allen Statistiken getilgt – heute zählt er dort zu den besten polnischen Fußballern aller Zeiten. Und fast jedes Jahr an seinem Todestag legen Fans seines ehemaligen Vereins Ruch Chorzów Blumen an seinem Grab in Karlsruhe nieder. In den (nie eindeutigen) ewigen Torjägerlisten der besten Schützen aller Zeiten steht Ernst Willimowski mit 1175 Pflichtspieltoren hinter den brasilianischen Giganten Arthur Arthur Friedenreich und Pelé – aber noch vor den Superstars Ferenc Puskás und Alfredo Di Stéfano.



