Die Telegramm-Affäre oder:  Wie Karlsruhe vor mehr als 115 Jahren um die Deutsche Fußball-Meisterschaft betrogen wurde

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von Thomas Alexander Staisch

War ausgerechnet ein Carl daran schuld, dass Karlsruhe nicht schon 1903 Deutscher Meister wurde?

Wem die berühmte „Telegramm-Affäre“ nicht so oft erzählt wurde wie dem Autor von seinem fußballbegeisterten Opa, hier die Kurzform: Im Halbfinale um die erste Deutsche Meisterschaft 1903 bekam der große Favorit Karlsruher FV ein Telegramm zugestellt, angeblich vom DFB, das die Verlegung des Spiels gegen den DFC Prag in Leipzig zum Inhalt hatte. Die Karlsruher fuhren nicht los, wurden disqualifiziert – und Prag kam kampflos ins Finale.

Der einzigartige Vorfall im deutschen Fußball wurde aufgrund fehlender Fakten oftmals lustig ausgeschmückt: Laut Gerd Krämer („An Tagen da das Endspiel war“) saßen die KFV-Spieler „an einem Freitagabend im Mai 1903“ im Vereinslokal „Prinz Karl“ und „schmetterten aus vollem Halse das alte Fußballerlied: ,O wonnevolles Fußballspiel, du schönstes Spiel der Jugend, dich gut zu spielen sei mein Ziel, das ist die höchste Tugend!“ In der Ecke sollen sich bereits die Koffer für die Reise nach Leipzig gestapelt haben.  Krämer erzählte dann auch theatralisch nach, wie ein geheimnisvoller Mann, natürlich mit „tief in die Stirn gedrücktem, breitbandigem Hut“, in einem Prager Telegrafenamt „mit verstellter Stimme ,Telegramm nach Karlsruhe’ geflüstert haben und später „munter vor sich hin pfeifend, aus Freude über den geglückten Streich“, davonmarschiert sein soll.

Ein Augenzeuge verriet 60 Jahre später, wie es weiterging. Der 82-jährige Ex-Torhüter Wilhelm Langer berichtete 1963, wie Kapitän Hans Ruzek im Vereinslokal zur Tür herein gestürmt kam und das Telegramm in der Hand schwenkte: „Ihr könnt wieder auspacken. Depesche aus Prag vom Deutschen Fußballbund. ,Meisterschaftsspiel verlegt. DFB.’“ Da der DFB bereits zwei Mal das Spiel verschoben hatte, war Ruzek beruhigt. „Deshalb finden sie nichts dabei, wenn sie es ein drittes Mal verschieben!“, soll er gerufen haben.

Über den exakten Inhalt des leider verschollenen Telegramms gibt es mehrere Fassungen: Während Krämers Version die populärste ist, steht im Bundestag-Besprechungsprotokoll des DFB: „Sonntagsspiel Leipzig findet nicht statt – Fußballbund.“ Und der KFV will ein „dringliches Telegramm“ mit der Botschaft „Spiel in Leipzig nicht abgehalten. Fußballbund“ erhalten haben.

Die Affäre hatte ein weniger bekanntes, chaotisches Vorspiel: Das Match Prag gegen KFV war zuerst für den 26. April (in Prag) angesetzt, dann auf den 10. Und später auf den 17. Mai (in München) verlegt worden. Dann wollte man doch lieber Prag als Spielort und legte sich schließlich für den 24. Mai in Leipzig fest. Die Karlsruher erhielten das ominöse Telegramm dann am 23. Mai, Samstagmittags um 11.30 Uhr.

Beim 6. Bundestag des DFB am 31. Mai 1903 in Hamburg gab es wegen des Kriminalfalls dann eine „lebhafte Auseinandersetzung“. Diskutiert wurde vor allem die Spielverlegung und schnell war ein böser Bube gefunden: Gegen den Bundesschriftführer Carl Perls vom Berliner FC Fortuna 1894 (der im Viertelfinale noch als Schiedsrichter zum Einsatz gekommen war) und den Bundeskassier wurde ein Misstrauensvotum gestellt. „Herr Perls trägt die Schuld am Ausscheiden des Karlsruher Vereins“, erklärte der Bundestag kurzerhand. Er soll seine Kompetenzen überschritten und dem Spiel-Ausschuss vorgeschlagen haben, beim Wahl des Spielorts nicht auf die Wünsche der Karlsruher zu hören, sondern auf die Bundeskasse. Zugleich wurde festgestellt, dass den KFV keinerlei Schuld am Nichtzustandekommen des Spiels traf – in den Medien (Berliner Tagesblatt, Norddeutsche Allgemeine, Neues Wiener Tagblatt) waren die Schwarzroten noch heftig attackiert worden. Die Neue Sportwoche hatte z.B. am 21. Mai geschrieben, dass der KFV „scheinbar nicht viel Wert auf die Meisterschaft beigelegt“ habe, denn „sonst hätten sie wohl nicht so leicht auf die Teilnahme Verzicht geleistet“. Durch ihr Ausscheiden würde „die sogenannte Deutsche Meisterschaft sehr an Interesse“ verlieren. 

Der KFV hatte zurückgeschossen und am 11. Juni (u.a. im „Sport im Wort“) eine Stellungnahme mit dem Titel „Die volle Wahrheit“ veröffentlicht. Darin wurde der DFB heftig kritisiert: So kam heraus, dass die Terminliste zur Austragung der Meisterschaft kurzfristig zusammengeschustert und nicht veröffentlicht worden war. Der erste Spieltermin am 26. April war dem Meisterschaftsfavoriten nur Tage zuvor mitgeteilt worden: „Es war uns vollständig unmöglich, nach Prag zu reisen. Der K.F.V. kann an einem gewöhnlichen Sonntag keine Reise von 38 Stunden machen, da 4 Schüler in der Mannschaft sind und weitere 5 feste Stellungen haben, und von diesen 9 nur der eine oder andere freibekommen hätte!“ Außerdem forderte man „gleiches Recht für beide“ und damit einen neutralen Spielort. Als die Reklamation nichts brachte, schlug man München vor und klärte in Eigenregie das Finanzielle mit dem Internationalen Sport Club München ab.

Die Schwarzroten mussten zudem feststellen, dass der DFB keine Lust hatte, direkt zu kommunizieren, sondern alle News über das „Prager Tagblatt“ veröffentlichte (es gab insgesamt 13 Meldungen rund um das Match in besagter Zeitung!) – nur auf telegraphische Anfragen reagierte man ab und zu. Dabei verhandelte man mit einem gewissen Herrn Darkow, der gleichzeitig auch als Schiedsrichter der Begegnung eingeteilt war.

Der DFB teilte dann humorlos mit, dass man in München zu wenig Geld einnehmen und bei Nichtantritt das Spiel als verloren zählen würde. Der KFV blieb stur, der DFB kam zehn Tage später mit einem Vermittlungsangebot um die Ecke und bot Leipzig als Spielort an. „Wir sagten zu, obwohl wir mit Ersatz hätten spielen müssen. Alles war zur Abfahrt bereit, als das Unglaubliche geschah, dass uns jetzt daran zweifeln lässt, ob in Prag alles auf rechtliche Weise zuging!“

Abbildung: Die Presse vermeldet das Nicht-Antreten des KFV. Quelle: Thomas Staisch.

Und warum waren die Karlsruher nicht misstrauisch? „Da wir bis jetzt alle Nachrichten von Prag bekommen hatten, so zweifelten wir nicht an der Echtheit des Telegramms. Wir hielten es nicht für möglich, dass ein deutscher Sportsmann eine Urkundenfälschung begehen kann und hielten die Unterschrift ,Fussballbund’ für berechtigt“, so der KFV. Erst am darauffolgenden Dienstag will der KFV – wiederum aus dem „Prager Tagblatt“ – vom Betrug erfahren haben und, dass es keine zeitliche Möglichkeit mehr gab, vor dem Finale eine Halbfinale zu spielen. Interessanterweise erklärte erwähnter und eigentlich bestens informierter Schiri Darkow später vor Ort Prag zum Sieger – und ließ ein Privatspiel gegen den Leipziger BC ausfechten (1:1), wobei „beide Parteien sich nicht besonders anstrengten“.

Der Urheber der gefälschten Depesche, die „schwarze Hand“ („Kicker“-Journalist Joseph Michler), wurde nie ermittelt, es liegt aber der Verdacht nahe, dass ein Komplott um den DFB-Präsidenten und umstrittenen „Rassenhygieniker“ Dr. Ferdinand Hueppe stattfand (er war auch großer Anhänger des Nackt-Ruderns), der nicht zufällig 1. Vorsitzender des Prager Vereins war. Neben den dubiosen Spielverlegungen und Regeländerungen zugunsten der Prager trat die Mannschaft zu allem Überfluss auch noch mit sieben (!) österreichischen Nationalspielern zum Endspiel an, die nicht spielberechtigt waren und täuschte seinen Gegner im Vorfeld mit einer falschen Aufstellung.

Genutzt hatte der ganze Betrug nichts: Das nicht eingespielte Prager Team ging gegen den VfB Leipzig mit 2:7 unter. Heute unvorstellbar: Wie beim Ur-Länderspiel 1899 fehlte auch beim Finale 1903 zunächst ein Spielball, quer durch das Spielfeld (die „Exerzierweide“ in Hamburg-Altona) führte gar ein kiesbestreuter Fußgängerweg!

Abbildung: Die KFV-Mannschaft im Jahre 1904. Quelle: KFV-Archiv.

Auch der KFV hatte einen Schuldigen im Visier, allerdings nicht explizit DFB-Boss Hueppe: „Der DFC kann nun behaupten, er wisse nichts von dem Telegramm, wir behaupten jedoch, solange bis der DFC unsere Meinung widerlegt, dass nur ein Mitglied des DFC, wenn auch ohne Vollmacht des Vereins, so doch in Übereinstimmung mit dessen Wünschen diese Fälschung begangen hat, denn nur ein Mitglied konnte derart in die Verhandlungen eingeweiht sein und so viel Interesse für den DFC bekunden, dass er eine derartige Fälschung beging, um dem DFC bis zum Entscheidungsspiel zu verhelfen. Der DFC, mit dieser Heldentat nicht zufrieden, veröffentlichte Berichte, die der Wahrheit ins Gesicht schlagen und uns von Seiten des Herrn 1. Vorsitzenden des DFB, Herrn Hueppe, den Vorwurf einbrachten, der KFV hätte unsportlich gehandelt.“

Als negative Folgen führte man noch an, dass man renommierten Gegnern wie Grasshoppers Zürich oder Wien an Pfingsten zugunsten des DFB abgesagt hatte. Und gegen Slavia Prag wollte man dann aus gutem Grund nicht mehr spielen. Außerdem trat man von Seiten des KFV ein bisschen nach und führte an, dass Prag bereits 1902 „aus pekuniären Rücksichten den sportlichen Anstand“ vergessen hatte – und die Karlsruher trotz Absagen bei einem Mini-Turnier in Prag anreisen ließ, um sie dann frisch ausgeruht zu schlagen.

Der DFB verteidigte wie erwähnt die Karlsruher (und auch die Prager Elf), entschuldigte das gefälschte Telegramm aber lapidar als „Bubenstück eines Prager ,Sportsmannes’“. In seiner Jubiläumsschrift 1950 sprach der DFB von einem „bedauerlichen Zwischenfall, der geeignet war, die ganze Meisterschaft in Gefahr zu bringen“. Er begründete seine Haltung, den KFV zu disqualifizieren, damit, „dass das Telegramm Bedenken auslösen und zu einer fernmündlichen Rückfrage hätte anregen müssen“ – also, dass „bei der Nachprüfung des Telegramms nicht die nötige Sorgfalt“ an den Tag gelegt worden war.

Mit Telegrammen hätte sich Karlsruhe eigentlich auskennen müssen: Am 22. November 1794 wurde die allererste „Drahtbotschaft“ Deutschlands in der Residenzstadt verschickt – vom Turmberg aus ins Schloss, zu Ehren des Geburtstags von Markgraf Karl Friedrich. Es handelte sich um ein kleines Gedicht (u.a.: „O Fürst, sieh hier, was Teutschland noch nie sah/Wie Dir ein Telegraph heut Segenswünsche schicket“), die Depesche war damals in „weniger als zehn Minuten deutlich und sicher signalisiert“.

Was kaum einer weiß: Der KFV, damals in der Aufstellung Wilhelm Langer, Fritz Gutsch, Zweerts, Albert Alterheim, Ivo Schricker, Holdermann (Karl Sauter), Hans Ruzek, Ludwig Heck, Rudolf Wetzler, Julius Zinser, Fritz Langer (Otto Jüngling) unterwegs, forderte Leipzig nach dem Finale angeblich zu einem „Herausforderungskampf, um sie seiner Meisterwürde zu entthronen“ (DFB). Die Karlsruher verloren 7:3, was beim Fußballbund erleichtert aufgenommen wurde: „Der peinliche Eindruck wurde somit bald verwischt.“ In der 25-Jahresfestschrift hatte der DFB noch angemerkt, dass die Meisterschaft durch die Affäre („verhängnisvoller Bubenstreich“) „an Wert verloren hätte, da der DFC Prag niemals zum Schlussspiel gelangt“ wäre.

Auch Leipzig, der frischgebackene Träger der „Bundes-Meisterwürde“, kannte die kuriosen Fakten: „Trotz des offensichtlichen Betrugs erklärte der DFB den Karlsruher FV für disqualifiziert. Der Deutsche FC Prag zog so also ins Finale ein, ohne vorher auch nur ein Spiel bestritten zu haben, Leipzig immerhin drei“, schreibt die Leipziger Chronik.

Den sporthistorischen „Schurkenstreich“ hat sogar Günther Grass in seinem Werk „Mein Jahrhundert“ erwähnt, im Eintrag für das Jahr 1903. Für Grass  – er schreibt aus der Sicht eines Leipziger Spielers – waren die „schusseligen Herren im KFV-Vorstand“ Schuld gewesen, die sich von dem „üblen Trick“ hinters Licht hatten führen lassen.

Während die Telegramm-Affäre von 1903 (Fußball-)Geschichte geschrieben hat, ist weniger bekannt, dass sich knapp sieben Jahre später ein zweites, dramatisches „Telegramm-Gate“ um den KFV abspielte. Die Schwarzroten mussten am 27. Februar 1910 in Pforzheim antreten und gewinnen, um in der Tabelle mit Phönix Karlsruhe noch gleichzuziehen. Die Abfahrt war auf 11.38 Uhr (und das Spiel auf „½ 3 Uhr“) festgelegt, als Linksverteidiger Hollstein ein in Karlsruhe aufgegebenes Telegramm mit folgendem Inhalt erhielt: „Abfahrt Pforzheim 2.31 Uhr, Spiel 4 Uhr. Max“. Als Holstein sich telefonisch bei Max Schwarze erkundigte, wusste der linke KFV-Läufer allerdings von nichts – bei beiden Spielern schrillten die Alarmglocken! „Böses ahnend verabredeten sie einen Patrouillengang per Rad zu machen, um ihre Mitspieler vor dem Hinterhältigen zu warnen“, wird in der „Süddeutschen Sportzeitung“ berichtet. Und es wurde noch teuflischer: Bei seiner Rückkehr soll Schwarze ein zweites Telegramm von unbekannt vorgefunden haben! Inhalt: „Spiele nicht wegen Todesfall. Keine Besuche. Holstein.“ Der Rest ist bekannt: Der KFV ließ sich vom „Telegramm-Phantom“ nicht verrückt machen, reiste pünktlich an und putzte Pforzheim mit 5:0. Und nach einem 3:0 über Phönix im Entscheidungsspiel wurde man Süddeutscher Meister – und später Deutscher Meister. Auch in diesem Fall wurde der Übeltäter nie ermittelt (vielleicht hätte man bei einem Phönix-Fan nach Hinweisen suchen sollen?). Es gab allerdings mediale Schelte: Der Absender solle sich bittere Vorwürfe machen, dass er die eine Mark für das Telegramm nicht für die nächste Messe zurückgelegt habe (und für den Kauf einiger Zuckerstangen), „denn diese Zeiten scheint er noch nicht so weit hinter sich zu haben. Jedenfalls hätte er dann im höchsten Falle Leibschmerzen bekommen; Was er jetzt bekommt, weiß man noch nicht!“

„Bösewicht“ Carl Perls vom DFB machte übrigens nicht nur durch die verpatzte Meisterschaft 1903 von sich reden: Er kämpfte auch verbissen und bereits ab 1900 gegen englische Begriff und die „Fremdwörterseuche“ (Perls) im deutschen Fußball.

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