Der Große Exerzierplatz: Von fußballerischen „Weltwundern“,Grenadier-Püffen – und landenden Zeppelinen

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von Thomas Alexander Staisch

Fußball zur Kaiserzeit wurde gerne auf militärischen Plätzen gespielt. Simpler Grund: Es gab noch keine Sportplätze! So musste sich die spielhungrige Jugend in Karlsruhe vor allem um den Kleinen Exerzierplatz bei der Moltkestraße, auch Engländerplatz oder „Engländerle“ genannt, und den Großen Exerzierplatz streiten. Deshalb ist es kein Zufall, dass die Geschichte des KFV mit der Geschichte der „Exer“ eng verbunden ist. Bis die Schwarzroten am 1. Oktober 1905 ihr erstes Stadion bezogen, bolzten sie auf beiden Plätzen. Ab 1900 war die Südwestecke des Großen Exerzierplatzes die Heimat des KFV, die man sich ohne Berührungsängste mit Alemannia Karlsruhe teilte. „Erzfeind“ Phönix Karlsruhe war auf dem Exer ein Platz „in der Nähe des Wachlokals der Schießstände“ (im Norden) zugewiesen worden – 1906 zog der Club dann nur ein paar Hundert Meter Luftlinie weiter östlich und errichtete seine erste Sportanlage an der Rheintalbahn. Zum Leidwesen der Kicker zeichneten sich alle Militärplätze als karge Sandplätze aus, die deshalb auch nicht landwirtschaftlich genutzt worden waren. 

Laut Rietschel und Strauss (2010) war das Exerzierfeld des Großherzoglich-badischen Leibgrenadierregiments 109 schon 1820 nördlich der Mühlburger Allee (heute Moltkestraße) angelegt worden, als insgesamt 75 Hektar Hardtwald gerodet wurden – und weil der Engländerplatz (der bereits im 18. Jahrhundert existierte) zu klein geworden war. Später nutzte man das Areal (und darüber hinaus) als „Alten Flugplatz“, ab 1909 wurde ein Ankerplatz für Zeppeline errichtet, ab 1925 ein regelmäßiger Flugbetrieb aufgenommen.

Bereits aus dem Jahr 1904 lässt sich ein historisches Match auf dem Großen Exer nacherzählen, bei dem der KFV im Mittelpunkt stand – wenn auch mit weniger erfolgreichem Ausgang. Denn am 29. Oktober wurden die „so gut wie unbesieglichen Schwarzroten“ zum allerersten Mal geschlagen – ausgerechnet von Stadtrivale Phönix und denkbar knapp mit 4:3. Unfassbar: Der „Verein“ hatte seit 1899 tatsächlich nur ganze zwei Spiele verloren – 1903 gegen Preußen Berlin (1:2) und gegen die Stuttgarter Kickers (1:3). Was die Niederlage bedeutete und gleichzeitig der KFV für eine Stellung genoss, erklärte „Kicker“-Experte Joseph Michler: „Der Sieg des Phönix, der gewaltiges Aufsehen erregte, stellte ihn in die vorderste Reihe der deutschen Mannschaften“.

Dabei hatten die Kicker auf dem Großen Exer nicht nur mit Gegner und Ball zu kämpfen. „Oft erschienen plötzlich Grenadiere und teilten so kräftige Püffe aus, dass wir so schnell wie möglich Fersengeld gaben. In einem durch das Einrammen der Torpfosten entstandenen Loch verfing sich unglücklicherweise ein Dragonerpferd und die Folge davon war ein striktes Verbot für jegliches Fußballspiel, was für uns junge Sünder ein schwerer Schlag bedeutete. Dann wurde darüber Buch geführt, wer die ,Stangen’ zu tragen hatte und der Vereinsvorstand musste das Zuschütten der Löcher persönlich überwachen“, erinnerte sich Phönix-Vorstand Karl Geppert. Farbenfroh: Die Torpfosten waren damals noch in den Vereinsfarben gestrichen.

Leider fehlen Fotografien von den frühen Fußball-Schlachten, jedoch existieren einige schöne Aufnahmen des riesigen Areals, die bei der Landung von Zeppelinen z.B. 1911 gemacht wurden. Während des Krieges war dort sogar ein Pferdelazarett errichtet worden.

Filmreif mutet dagegen die Begebenheit an, bei welcher der KFV das wohl wichtigste Fußballereignis in Karlsruhe zu torpedieren versuchte – das Ur-Länderspiel 1899 auf dem Großen Exerzierplatz –, wo er dann in der Nähe sechs Jahre später sein berühmtes Stadion an der Telegrafenkaserne bezog, die erst 1906/07 errichtet wurde, und historische Siege feierte.

Denn der größte Widerstand gegen das Jahrhundertmatch kam trotz antibritischer Krüger-Depesche und „Gott-strafe-England“-Stimmung ausgerechnet aus Karlsruhe selbst: Der Präsident des noch jungen (1897 gegründeten) Süddeutschen Fußballverbandes (V.S.F.V.), Friedrich Wilhelm Nohe, wollte das Ländermatch unter allen Umständen verhindern. Mit drastischen Mitteln: Nohe, der gleichzeitig KFV-Vorstand war, verweigerte nicht nur die Spielstätte am Engländerplatz, sondern verbot auch, dass Verbandsmitglieder bei dem Match auflaufen durften! Das hatte kuriose Folgen: Phönix Karlsruhe stellte sich quer und gleichzeitig Fußball-Pionier, Organisator und Phönix-Mitglied (!) Bensemann den eigenen Platz auf dem Großen Exer zur Verfügung – und wurde dafür aus dem Verband geworfen. Noch bizarrer ging es bei den KFV-Spielern Fritz Langer (seinem Bruder Wilhelm?) und Julius „Julle“ Zinser zu: Da sie mitkicken wollten, traten sie kurzerhand aus dem KFV aus und bei Phönix ein.

Nach monatelangen Versuchen, den berühmten Gast von der Insel nach Deutschland zu locken, nach organisatorischen Rückschlägen und Streitereien mit konservativen Funktionären schien das erste Länderspiel auf badischem Boden vor 115 Jahren ausgerechnet dann an dem zu scheitern, was bei einem Fußballspiel auf keinen Fall fehlen sollte: dem Ball!

Fakt war: Als die Auswahlmannschaften aus dem Fußball-Mutterland England und Deutschland den Großen Exerzierplatz zu Karlsruhe betraten, vermisste der Schiedsrichter tatsächlich das Spielgerät. Und der Unparteiische war nicht irgendwer: Walther Bensemann (der spätere „Kicker“-Gründer) hatte es sich nicht nehmen lassen, das Jahrhundert-Match auch persönlich anzupfeifen. Der Weg zum sportlichen „Weltwunder“ – die englischen Fußball-Giganten kamen so gut wie nie aufs Festland und dann nur gegen astronomische Summen – war ein steiniger: Bensemann, damals ein gerade 26-jähriger Student, ließ sich weder von 62 deutschen Protestbriefen noch von der Absage des geplanten Spielorts in Hamburg entmutigen, sondern bestand auf seinem einmaligen Projekt – und bezahlte die kolportierten 4000 Mark Antrittsprämie persönlich. Very british: Die Engländer erwiesen sich als faire Sportsleute und sollen weitere 4300 Mark an Spesen selbst übernommen haben.

Das Spiel, dass dann an einem Dienstag um 14.30 Uhr und bei „nasskaltem, trüben Wetter“ angepfiffen wurde, stand also alles andere als unter einem guten Stern: Phönix soll als Veranstalter kurzfristig Pritschenwagen einer Spedition angemietet und zu provisorischen Tribünen umfunktioniert haben, mit Hilfe eines 300 Meter langen Seils und „Sackstoffen“ war der (von den Engländern als „uneben und zu breit“ kritisierte) Platz zwei Meter hoch eingezäunt und 10 bis 50 Pfennig Eintritt verlangt worden. Trotz der widrigen Umstände sollen je nach Quelle 1500 bis 5000 Zuschauer gekommen sein, englische Medien legten sich auf 3000 Gäste fest – was an einem Werktag und bei insgesamt „nur“ 90.000 Einwohnern in Karlsruhe beachtlich war. „Die Schüler haben zum Teil klassenweise gestreikt, denn wenn die Engländer spielen, geht man doch nicht ins Penal und für Crabtree von Aston Villa bezieht man gern wegen Schwänzens eine Stunde Karzer“, freute sich Bensemann. 

Hintergrund: Das historische Match in Karlsruhe, für das sogar Programmhefte gedruckt worden waren, war das dritte der sogenannten Ur-Länderspiele. Die ersten beiden hatten wenige Tage zuvor, am 23. und 24. November in Berlin, stattgefunden und mit verheerenden Niederlagen der Deutschen (2:13 und 2:10) geendet. Da der DFB erst 1900 gegründet wurde, führt der Verband die drei Begegnungen bis heute nicht als die ersten offiziellen Länderspiele. Strittig sind zudem fünf weitere Spiele (7:0 und 2:1 in Paris 1898, 0:8 in Prag 1899, 0:12 und 0:10 in England 1901), die einige Sporthistoriker auch zu den Ur-Länderspielen zählen – in den ersten beiden bolzte Bensemann noch persönlich mit.

Die Zuschauer in Karlsruhe, unter denen auch eine Delegation der Grashoppers aus Zürich und „Spielverderber“ Nohe gewesen sein soll, kamen jedenfalls auf ihre Kosten: „Es war eine Offenbarung“, schwärmte Augenzeuge Karl Geppert, über das klassische, „sauber“ genannte Spiel der Engländer, die zur Pause schon 4:0 geführt hatten. Im Gegensatz zu den Berliner Niederlagen hatten sich die Deutschen unter Phönix-Kapitän Arthur Beier aber bravourös gewehrt. Selbst die Briten – „Reuters“ verfasste sogar eine Agenturmeldung zu dem Match – lobten später die „gute deutsche Verteidigung“ und das „tapfere, aber unterlegene Spiel“ des Teams, das für ihren Einsatz natürlich keinen Pfennig sah. Die Schwarz-Weiß-Roten – Deutschland trug damals gemäß der Nationalflagge schwarze Trikots mit weiß-roter Binde am linken Ärmel – sollen „mit nervöser Hast und Aufregung“ und ironischerweise im britischen „Kick-and-Rush“-Stil gespielt haben, während die Engländer gekonnt den gepflegten Kurzpass vorführten. Publikumsliebling war der 1,90 Meter große, spätere KFVler Wilhelm „Willy“ Langer im Tor, der „Gelegenheit fand, mit großer Bravour und Ruhe einige Bälle zu halten“. Die Briten dagegen „gelangten durch geschicktes Passen und Kombinieren unzählige Male vor das deutsche Goal“ und hatten auch noch Glück: Der zweite Treffer „prallte von einem deutschen Back ins Tor“. Nach Halbzeit ließen es die großen Vorbilder  – gekleidet in „weißen Blusen und marineblauen Hosen“ – langsamer angehen. Die Zeitungen spekulierten: „Die Engländer schienen ermüdet zu sein von den vielen Reisen und Dinners oder sie wollten sich nicht mehr sonderlich anstrengen, das Shooten aufs Tor wurde unsicherer und weniger scharf“. Besonders die deutschen Stürmer hatten einen schweren Stand: „Ihr Spiel kommt gar nicht in Schwung, sie sind zu langsam, ihr Zuspiel mangelhaft“, so die Kritik. Ganz schlimm wurde es für KFV-Angreifer „Julle“ Zinser: Der machte gegen Jonny Holt – obwohl zwei Köpfe kleiner – keinen Stich. Schließlich schrie Zinser wütend „Leck mich am A…!“ über den Platz und musste von Schiedsrichter Bensemann ermahnt werden. Und Witzbold William Basset machte sich einen Scherz daraus, die extreme Manndeckung des deutschen Teams zu veräppeln, indem er einmal um den ganzen Platz herummarschierte – und belustigt zuschaute, wie ihm sein Gegner tatsächlich auf dem Fuß folgte. 

Das historische Treffen war beinahe noch durch einen Karlsruher Künstler gestört worden: Denn die Briten, die im noblen Hotel „Germania“ (heute Standort des Ettlinger Tor Centers) residierten, hätten am Vorabend des Spiels einen Komiker im Varieté-Theater „Colosseum“ – dort feierte Phönix zehn Jahre später auch seine Meisterschaft – fast von der Bühne geholt. Was war passiert? Der gute Mann hatte „unpassend“ vom (gerade begonnenen) Burenkrieg der Engländer gesungen. Aber: „Die deutschen Freunde und einige Liter badischen Weines verhinderten Schlimmeres“. Die Zeit bis zum Wettkampf hatten sich die Briten mit Einkäufen vertrieben, man hatte einen „Wagenausflug nach Durlach“ organisiert, um sie „mit den Reizen der Umgebung bekannt zu machen“, die Sportler waren laut „Spiel und Sport“ durch die Stadt gewandert, hatten Billard im berühmten Café Bauer in der Lammstraße gespielt und auch ein bisschen gekickt – natürlich auf „ihrem“ Platz, dem Engländerplatz!

Immerhin bedeutete die in jeder Hinsicht denkwürdige 0:7-Klatsche von Karlsruhe die knappste Niederlage gegen die Briten überhaupt. Und die Deutschen hatten sogar ein Tor geschossen: Der Treffer vom „falschen Phönixler“ und echtem KFVler Fritz Langer auf Linksaußen wurde aber nicht gegeben, weil der Ball zuvor schon im Aus gewesen sein soll.

In ihrer Heimat verlieh die britische „Football Association“ (FA) dem englischen Team (nach einiger Diskussion, weil es ja „nur“ ein inoffizielles Spiel war) schließlich Gedenkabzeichen – und Bensemann sogar das FA-Abzeichen in Gold.

Manche kritische Berichterstattung wie die von Gustav „Gus“ Manning („Das Wettspiel der Engländer in Karlsruhe“) aus „Sport im Wort“ sollte man nicht allzu ernst nehmen: Der Mann war nicht nur gebürtiger Brite, sondern auch Angestellter beim Süddeutschen Verband – und damit erklärter Gegner von Bensemann. Manning beklagte die „trotz versuchter Reklame mäßige Zuschauermenge“ und schimpfte: „Es ist keine Ehre für Engländer, an einer Feier von Phönix teilzunehmen, die aus dem V.S.F.V. geworfen wurden und es ist keine Ehre für Engländer, gegen disqualifizierte Spieler anzutreten!“ Immerhin schaffte er es später zum ersten Präsident des US-Fußballverbands – und war als FIFA-Mitglied maßgeblich daran beteiligt, dass Deutschland 1954 wieder an einer WM teilnehmen durfte. Die Feier, damals „Festcommers“ genannt, fand übrigens im Hotel „Monopol“ statt. Dort war dann nach einer Begrüßungsrede von Bensemann „so viel getoastet und getrunken“ worden, dass es manchem Engländer schwer viel, am darauffolgenden Mittag rechtzeitig am Bahnhof zu erscheinen, wo die Gäste „unter donnernden Hip Hip Hurrahs“ verabschiedet wurden.

Das Problem mit dem fehlenden Ball zum Spielbeginn wurde schnell gelöst, wenn auch „illegal“. Denn ein von Walther Bensemann losgeschickter Radkurier hatte nach 15 Minuten ausgerechnet einen Ball aus KFV-Besitz herbeigeschafft. „Dann macht der sich jetzt strafbar“, soll der Schiedsrichter laut Bensemann-Biograph Beyer geknurrt, den Ball aber verwendet haben.

Für Statistik-Freunde hier noch die Aufstellungen und Torschützen des historischen Spiels:

Deutschland: W. Langer (KFV), E. Schricker (Straßburger FV/ASC Berlin), A. Kohts (Straßburger FV/ASC Berlin), I. Schricker (Straßburger FV/ASC Berlin), A. Beier (Phönix Karlsruhe/Stuttgarter Kickers), H. Schuon (Frankonia Karlsruhe?), H. oder E. Link (Frankonia Karlsruhe?), O. Zierold (Germania 88 Berlin), J. Zinser (KFV/Phönix), Rickmers (ASC Berlin), F. Langer (KFV/Phönix).

Erklärung: Bei den Schrickers, Beier und Koths sind zwei Vereine angegeben, das sie eigentlich für den erstgenannten Club spielten, zum Zeitpunkt des Matches aber in anderen Städten beruflich tätig waren und auch dort kickten! Zinser/Langer waren ja wie erwähnt nur für ein Spiel „Phönixler“. Und weil die Schrickers oder Link später beim KFV spielten, wurde die deutsche Mannschaft bei diesem Spiel oftmals als Karlsruher Auswahl angesehen und nicht als repräsentative.

England: Wilfred Waller (Richmond), Philip Bach (Sunderland), James W. Crabtree (Aston Villa), John D. Cox (Derby County), John Holt (Reading), Oswald E. Wreford-Brown (Old Carthusians), William I. Bassett (West Bromwich Albion), Stanley S. Taylor (Cambridge University), E. D. Brown (Clapton), Joseph J. Rogers (Newcastle), Edgar W. Chadwick (Burnley).

Torschützen: Taylor (2), Chadwick (3), Rogers, Brown.

Luftschiff auf dem Areal des Flugplatzes, Quelle: Thomas Staisch.

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