Karoline Radke-Batschauer – 18. Oktober 1903 in Karlsruhe – 14.Februar 1983 in Karlsruhe
Von Dr. Wolf-D. Junghanns
Am 2. August 1928, bei den Olympischen Sommerspielen in Amsterdam, hat Lina Radke in mehrfacher Hinsicht Geschichte geschrieben: Zum ersten Mal durften Frauen an den Leichtathletikwettbewerben teilnehmen – im Hochsprung, Diskuswerfen, 100-m-Lauf, in der Sprintstaffel und im 800-m-Lauf –, und erstmals seit dem Ersten Weltkrieg stellte sich bei Sommerspielen wieder eine deutsche Mannschaft der internationalen Konkurrenz. Besonders die deutschen Mittelstreckenläufer – Otto Peltzer u. a. – begleiteten hohe Erwartungen nach Amsterdam, aber sie „enttäuschten“ mit dritten und vierten Plätzen.
Lina Radke siegte in der Weltrekordzeit von 2:16,8 min und gewann damit das erste und vorerst einzige Olympiagold überhaupt für die deutsche Leichtathletik; den Männern gelang das erst 1936. Mit kluger Taktik und einem langgezogenen „energischen“ Endspurt überlief sie die anderen Favoritinnen in dem bis dahin schnellsten Rennen über diese Distanz – auch die Zweit- und Drittplazierte, Kinuye Hitomi (Japan) und Inga Gentzel (Schweden), unterboten Radkes am 1. Juli 1928 in Brieg aufgestellten Rekord von 2:19,8 min. Doch die Freude hielt sich in Deutschland in Grenzen. Die Presse sah „Deutschlands Ehre“ gerettet und lobte die Laufleistung, bedauerte aber z.T., daß der Erfolg „nur“ von einer Frau erzielt worden war. Damit nicht genug, die Erschöpfung und Enttäuschung einiger Finalteilnehmerinnen, die sich nach dem Zieleinlauf auf das Grün des Stadioninnenraums niedergelassen hatten, wurde vielfach als „Zusammenbruch“ gedeutet, gerügt und von Offiziellen zum Vorwand genommen, die 800-m-Strecke als „zu anstrengend“ und „unästhetisch“ wieder aus dem olympischen Programm der Frauen zu nehmen. Erst 1960, in Rom, wurde sie wieder gelaufen.
Insgesamt brachte die Mittelstrecke Lina Radke wenig Glück, denn nachdem auch andere nationale Verbände die Strecke absetzten, boten sich zunehmend weniger Wettkampfgelegenheiten. 1930 und 1931 belegte sie bei den Deutschen Meisterschaften jeweils den 2. Platz hinter ihrer Dauerrivalin und späteren Sprintspezialistin Marie Dollinger (TV Langenzenn, 1. FC Nürnberg). 1933 strich die NS-Sportführung den 800-m-Lauf aus dem Meisterschaftsprogramm. Lina Radke wehrte sich dagegen publizistisch und mit Weltrekordläufen in der Olympischen Staffel (100, 100, 200, 800 m) und in der 3 x 800-m Staffel des VfB Breslau – vergeblich. Es blieben ihr die Gelände- und Waldläufe – hier wurden auch längere Strecken, meist zwischen 1500 und 2000 m, ausgeschrieben, da sie nicht als erschöpfende Tempoläufe galten – und die Konzentration auf Kurzstrecken, u. a. im Hürdenlauf, außerdem die anderen leichtathletischen Disziplinen. Sie gehörte noch zu den Allroundsportlerinnen, die auch an allen Wurf- und Sprungwettbewerben teilnahmen. Nur 1934, als man sie für die Weltspiele der Frauen in London (3. Platz) und für einen anschließenden Vergleich mit einem japanischen Team in Wuppertal (1. Platz), für die prestigeträchtige Gesamtwertung benötigte, durfte sie „ihre“ Strecke noch einmal offiziell laufen.
Von Lina Radkes Biographie sind nur einige Eckpunkte bekannt – nicht nur wurde während ihrer aktiven Zeit sehr viel weniger über die Frauenwettbewerbe und das Leben der Athletinnen als über die Biographien und die viel zahlreicheren „Kämpfe“ der Männer berichtet, sie selbst scheute offenbar die Öffentlichkeit und lebte sehr zurückgezogen. Sie wurde am 18. Oktober 1903 in Karlsruhe als eines von mehreren Geschwistern geboren – der Leichtathlet Emil Batschauer (1901–1978) war einer ihrer Brüder. 1917 zog die Familie nach Baden-Baden, wo sie vergleichsweise spät, wohl erst 1923, mit dem Sport begann: im Leichtathletik-Verein Baden-Baden 1923, der 1926 im Sportverein Baden-Baden aufging. Als Mitglied des SV wurde sie 1926 in Braunschweig Deutsche Meisterin über 1000 m – nur dieses eine Mal wurde dieser Titel national vergeben. 1927 wechselte sie zum Karlsruher Fußballverein, in dessen Trikot sie erstmals größere Aufmerksamkeit auf sich zog, als sie am 12. Juni bei einem internationalen Frauensportfest in Berlin erst den Landesrekord über 800 m auf 2:28,8 min verbesserte und dann am 7. August in Breslau in der Weltrekordzeit von 2:23,7 min Deutsche Meisterin über diese Strecke wurde.
Im Herbst 1927 heiratete sie in Baden-Baden den Breslauer Schneidermeister und ehrenamtlichen Leichtathletiktrainer Georg Radke (1900–1993), der sie auf die Olympischen Spiele vorbereitete und auch in Amsterdam selbst trainierte. Das Paar zog nach Breslau und ab 1928 startete „Frau Radke“, wie sie in der Presse im Unterschied zu den „Fräuleins“ ihrer Konkurrenzen bezeichnet wurde, für den dortigen Verein für Bewegungsspiele, mit dem sie schnell zu einer führenden Athletin Schlesiens wurde. Bis einschließlich 1944 nahm sie mit dem VfB an Wettkämpfen teil, mit einigen Unterbrechungen, bedingt vor allem durch die Geburt des Sohnes Norbert (1937–2002). Über Ausbildungen und berufliche Tätigkeiten wurde bislang nichts ermittelt. Zumindest in den ersten Breslauer Jahren scheint sie Hausfrau gewesen zu sein. Neben dem eigenen Training unterstützte sie wohl die Ausbildung jüngerer VfB-Athletinnen.
1945 gehörten Lina Radke zu den aus Schlesien Zwangausgesiedelten. Ihr Mann Georg befand sich eine unbekannte Zeit lang in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Über Thüringen gelangten Radkes Ende der vierziger Jahre nach Torgau, wo Georg Radke wieder als Schneider arbeitete und sich erneut für die Leichtathletik engagierte. Bei der BSG Chemie Torgau betreute er u. a. die 800 m-Läuferin Elli Sudrow, 1951 und 1953 DDR-Meisterin über 800 m, und die 3 x 800-m-Staffel mit Elli Sudrow sowie Lore und Rose Block, die 1952 und 1953 Rekordzeiten lief. Er schrieb Leichtathletikberichte für die Presse und gilt er als Initiator des bis heute populären jährlichen Torgauer Teichelaufes. Lina Radke nahm Anfang der fünfziger Jahre auf Kreiseebene noch einmal an Wettkämpfen teil, speziell im Diskuswurf und im Kugelstoßen. Norbert folgte dem Vorbild der Eltern: Er übte sich allseitig in Wurf-, Sprung- und Laufdisziplinen und erzielte in Jugendwettbewerben auch Erfolge. Lina Radke unterstützte ansonsten in der örtlichen katholischen Gemeinde Behinderte. Laut amtlicher Notiz verließen Radkes am 8. Juli 1961 „illegal“ Torgau und zogen nach Karlsruhe, wo die ehemalige Leichtathletin weiterhin ein zurückgezogenes Leben führte und am 24. Februar 1983 starb. Das Familiengrab befindet sich auf dem Mühlburger Friedhof.
Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ist Lina Radke mehrfach geehrt worden, u. a. als Ehrenmitglied des KFV um 1929 und 1973 mit der Ehrenmedaille der Stadt Karlsruhe. Zuletzt im Jahr 2003 durch die Aufnahme in die virtuelle „Hall of Fame“ von Leichtathletik.de, anlässlich derer der prominente Sportjournalist Gustav Schwenk (1923–2015) an sie erinnerte. Sollte die lange kontrovers diskutierte „Hall of Fame des deutschen Sports“ sich tatsächlich als eine sinnvolle Einrichtung etablieren, um die Erinnerung an besonders erfolgreiche und vorbildliche Athletinnen und Athleten zu bewahren, so verdient auch diese Pionierin des Mittelstreckenlaufs, „Deutschlands weiblicher Hanns Braun“, wie sie einmal genannt wurde, die Aufnahme.


