1903 — Die Telegramm-Affäre oder: Wie Karlsruhe um die Deutsche Fußball-Meisterschaft betrogen wurde
1903 — Die Telegramm-Affäre oder: Wie Karlsruhe um die Deutsche Fußball-Meisterschaft betrogen wurde
von Thomas Alexander Staisch
War ausgerechnet ein Carl daran schuld, dass Karlsruhe nicht schon 1903 Deutscher Meister wurde?
Wem die berühmte „Telegramm-Affäre“ nicht so oft erzählt wurde wie dem Autor von seinem fußballbegeisterten Opa, hier die Kurzform: Im Halbfinale um die erste Deutsche Meisterschaft 1903 bekam der große Favorit Karlsruher FV ein Telegramm zugestellt, angeblich vom DFB, das die Verlegung des Spiels gegen den DFC Prag in Leipzig zum Inhalt hatte. Die Karlsruher fuhren nicht los, wurden disqualifiziert – und Prag kam kampflos ins Finale. Der einzigartige Vorfall im deutschen Fußball wurde aufgrund fehlender Fakten oftmals lustig ausgeschmückt: Laut Gerd Krämer („An Tagen da das Endspiel war“) saßen die KFV-Spieler „an einem Freitagabend im Mai 1903“ im Vereinslokal „Prinz Karl“ und „schmetterten aus vollem Halse das alte Fußballerlied: ‚O wonnevolles Fußballspiel, du schönstes Spiel der Jugend, dich gut zu spielen sei mein Ziel, das ist die höchste Tugend!“ In der Ecke sollen sich bereits die Koffer für die Reise nach Leipzig gestapelt haben. Krämer erzählte dann auch theatralisch nach, wie ein geheimnisvoller Mann, natürlich mit „tief in die Stirn gedrücktem, breitbandigem Hut“, in einem Prager Telegrafenamt „mit verstellter Stimme ‚Telegramm nach Karlsruhe’ geflüstert haben und später „munter vor sich hin pfeifend, aus Freude über den geglückten Streich“, davonmarschiert sein soll.
Über den exakten Inhalt des leider verschollenen Telegramms gibt es mehrere Fassungen: Während Krämers Version die populärste ist, steht im Bundestag-Besprechungsprotokoll des DFB: „Sonntagsspiel Leipzig findet nicht statt – Fußballbund.“ Und der KFV will ein „dringliches Telegramm“ mit der Botschaft „Spiel in Leipzig nicht abgehalten. Fußballbund“ erhalten haben.
Die Affäre hatte ein weniger bekanntes, chaotisches Vorspiel: Das Match Prag gegen KFV war zuerst für den 26. April (in Prag) angesetzt, dann auf den 10. Und später auf den 17. Mai (in München) verlegt worden. Dann wollte man doch lieber Prag als Spielort und legte sich schließlich für den 24. Mai in Leipzig fest. Die Karlsruher erhielten das ominöse Telegramm dann am 23. Mai, Samstagmittags um 11.30 Uhr.
Beim 6. Bundestag des DFB am 31. Mai 1903 in Hamburg gab es wegen des Kriminalfalls dann eine „lebhafte Auseinandersetzung“. Diskutiert wurde vor allem die Spielverlegung und schnell war ein böser Bube gefunden: Gegen den Bundesschriftführer Carl Perls vom Berliner FC Fortuna 1894 (der im Viertelfinale noch als Schiedsrichter zum Einsatz gekommen war) und den Bundeskassier wurde ein Misstrauensvotum gestellt. „Herr Perls trägt die Schuld am Ausscheiden des Karlsruher Vereins“, erklärte der Bundestag kurzerhand. Er soll seine Kompetenzen überschritten und dem Spiel-Ausschuss vorgeschlagen haben, beim Wahl des Spielorts nicht auf die Wünsche der Karlsruher zu hören, sondern auf die Bundeskasse. Zugleich wurde festgestellt, dass den KFV keinerlei Schuld am Nichtzustandekommen des Spiels traf – in den Medien (Berliner Tagesblatt, Norddeutsche Allgemeine, Neues Wiener Tagblatt) waren die Schwarzroten noch heftig attackiert worden. Die Neue Sportwoche hatte z.B. am 21. Mai geschrieben, dass der KFV „scheinbar nicht viel Wert auf die Meisterschaft beigelegt“ habe, denn „sonst hätten sie wohl nicht so leicht auf die Teilnahme Verzicht geleistet“. Durch ihr Ausscheiden würde „die sogenannte Deutsche Meisterschaft sehr an Interesse“ verlieren.
Der KFV hatte zurückgeschossen und am 11. Juni (u.a. im „Sport im Wort“) eine Stellungnahme mit dem Titel „Die volle Wahrheit“ veröffentlicht. Darin wurde der DFB heftig kritisiert: So kam heraus, dass die Terminliste zur Austragung der Meisterschaft kurzfristig zusammengeschustert und nicht veröffentlicht worden war. Der erste Spieltermin am 26. April war dem Meisterschaftsfavoriten nur Tage zuvor mitgeteilt worden: „Es war uns vollständig unmöglich, nach Prag zu reisen. Der K.F.V. kann an einem gewöhnlichen Sonntag keine Reise von 38 Stunden machen, da 4 Schüler in der Mannschaft sind und weitere 5 feste Stellungen haben, und von diesen 9 nur der eine oder andere freibekommen hätte!“ Außerdem forderte man „gleiches Recht für beide“ und damit einen neutralen Spielort. Als die Reklamation nichts brachte, schlug man München vor und klärte in Eigenregie das Finanzielle mit dem Internationalen Sport Club München ab.
Die Schwarzroten mussten zudem feststellen, dass der DFB keine Lust hatte, direkt zu kommunizieren, sondern alle News über das „Prager Tagblatt“ veröffentlichte (es gab insgesamt 13 Meldungen rund um das Match in besagter Zeitung!) – nur auf telegraphische Anfragen reagierte man ab und zu. Dabei verhandelte man mit einem gewissen Herrn Darkow, der gleichzeitig auch als Schiedsrichter der Begegnung eingeteilt war.
Der DFB teilte dann humorlos mit, dass man in München zu wenig Geld einnehmen und bei Nichtantritt das Spiel als verloren zählen würde. Der KFV blieb stur, der DFB kam zehn Tage später mit einem Vermittlungsangebot um die Ecke und bot Leipzig als Spielort an. „Wir sagten zu, obwohl wir mit Ersatz hätten spielen müssen. Alles war zur Abfahrt bereit, als das Unglaubliche geschah, dass uns jetzt daran zweifeln lässt, ob in Prag alles auf rechtliche Weise zuging!“
Und warum waren die Karlsruher nicht misstrauisch? „Da wir bis jetzt alle Nachrichten von Prag bekommen hatten, so zweifelten wir nicht an der Echtheit des Telegramms. Wir hielten es nicht für möglich, dass ein deutscher Sportsmann eine Urkundenfälschung begehen kann und hielten die Unterschrift ‚Fussballbund’ für berechtigt“, so der KFV. Erst am darauffolgenden Dienstag will der KFV – wiederum aus dem „Prager Tagblatt“ – vom Betrug erfahren haben und, dass es keine zeitliche Möglichkeit mehr gab, vor dem Finale eine Halbfinale zu spielen. Interessanterweise erklärte erwähnter und eigentlich bestens informierter Schiri Darkow später vor Ort Prag zum Sieger – und ließ ein Privatspiel gegen den Leipziger BC ausfechten (1:1), wobei „beide Parteien sich nicht besonders anstrengten“.
Der Urheber der gefälschten Depesche, die „schwarze Hand“ („Kicker“-Journalist Joseph Michler), wurde nie ermittelt, es liegt aber der Verdacht nahe, dass ein Komplott um den DFB-Präsidenten und umstrittenen „Rassenhygieniker“ Dr. Ferdinand Hueppe stattfand (er war auch großer Anhänger des Nackt-Ruderns), der nicht zufällig 1. Vorsitzender des Prager Vereins war. Neben den dubiosen Spielverlegungen und Regeländerungen zugunsten der Prager trat die Mannschaft zu allem Überfluss auch noch mit sieben (!) österreichischen Nationalspielern zum Endspiel an, die nicht spielberechtigt waren und täuschte seinen Gegner im Vorfeld mit einer falschen Aufstellung.
Genutzt hatte der ganze Betrug nichts: Das nicht eingespielte Prager Team ging gegen den VfB Leipzig mit 2:7 unter. Heute unvorstellbar: Wie beim Ur-Länderspiel 1899 fehlte auch beim Finale 1903 zunächst ein Spielball, quer durch das Spielfeld (die „Exerzierweide“ in Hamburg-Altona) führte gar ein kiesbestreuter Fußgängerweg!
Auch der KFV hatte einen Schuldigen im Visier, allerdings nicht explizit DFB-Boss Hueppe: „Der DFC kann nun behaupten, er wisse nichts von dem Telegramm, wir behaupten jedoch, solange bis der DFC unsere Meinung widerlegt, dass nur ein Mitglied des DFC, wenn auch ohne Vollmacht des Vereins, so doch in Übereinstimmung mit dessen Wünschen diese Fälschung begangen hat, denn nur ein Mitglied konnte derart in die Verhandlungen eingeweiht sein und so viel Interesse für den DFC bekunden, dass er eine derartige Fälschung beging, um dem DFC bis zum Entscheidungsspiel zu verhelfen. Der DFC, mit dieser Heldentat nicht zufrieden, veröffentlichte Berichte, die der Wahrheit ins Gesicht schlagen und uns von Seiten des Herrn 1. Vorsitzenden des DFB, Herrn Hueppe, den Vorwurf einbrachten, der KFV hätte unsportlich gehandelt.“
Als negative Folgen führte man noch an, dass man renommierten Gegnern wie Grasshoppers Zürich oder Wien an Pfingsten zugunsten des DFB abgesagt hatte. Und gegen Slavia Prag wollte man dann aus gutem Grund nicht mehr spielen. Außerdem trat man von Seiten des KFV ein bisschen nach und führte an, dass Prag bereits 1902 „aus pekuniären Rücksichten den sportlichen Anstand“ vergessen hatte – und die Karlsruher trotz Absagen bei einem Mini-Turnier in Prag anreisen ließ, um sie dann frisch ausgeruht zu schlagen.
Der DFB verteidigte wie erwähnt die Karlsruher (und auch die Prager Elf), entschuldigte das gefälschte Telegramm aber lapidar als „Bubenstück eines Prager ‚Sportsmannes’“. In seiner Jubiläumsschrift 1950 sprach der DFB von einem „bedauerlichen Zwischenfall, der geeignet war, die ganze Meisterschaft in Gefahr zu bringen“. Er begründete seine Haltung, den KFV zu disqualifizieren, damit, „dass das Telegramm Bedenken auslösen und zu einer fernmündlichen Rückfrage hätte anregen müssen“ – also, dass „bei der Nachprüfung des Telegramms nicht die nötige Sorgfalt“ an den Tag gelegt worden war.
Mit Telegrammen hätte sich Karlsruhe eigentlich auskennen müssen: Am 22. November 1794 wurde die allererste „Drahtbotschaft“ Deutschlands in der Residenzstadt verschickt – vom Turmberg aus ins Schloss, zu Ehren des Geburtstags von Markgraf Karl Friedrich. Es handelte sich um ein kleines Gedicht (u.a.: „O Fürst, sieh hier, was Teutschland noch nie sah/Wie Dir ein Telegraph heut Segenswünsche schicket“), die Depesche war damals in „weniger als zehn Minuten deutlich und sicher signalisiert“.
Was kaum einer weiß: Der KFV, damals in der Aufstellung Wilhelm Langer, Fritz Gutsch, Zweerts, Albert Alterheim, Ivo Schricker, Holdermann (Karl Sauter), Hans Ruzek, Ludwig Heck, Rudolf Wetzler, Julius Zinser, Fritz Langer (Otto Jüngling) unterwegs, forderte Leipzig nach dem Finale angeblich zu einem „Herausforderungskampf, um sie seiner Meisterwürde zu entthronen“ (DFB). Die Karlsruher verloren 7:3, was beim Fußballbund erleichtert aufgenommen wurde: „Der peinliche Eindruck wurde somit bald verwischt.“ In der 25-Jahresfestschrift hatte der DFB noch angemerkt, dass die Meisterschaft durch die Affäre („verhängnisvoller Bubenstreich“) „an Wert verloren hätte, da der DFC Prag niemals zum Schlussspiel gelangt“ wäre.
Auch Leipzig, der frischgebackene Träger der „Bundes-Meisterwürde“, kannte die kuriosen Fakten: „Trotz des offensichtlichen Betrugs erklärte der DFB den Karlsruher FV für disqualifiziert. Der Deutsche FC Prag zog so also ins Finale ein, ohne vorher auch nur ein Spiel bestritten zu haben, Leipzig immerhin drei“, schreibt die Leipziger Chronik.
Den sporthistorischen „Schurkenstreich“ hat sogar Günther Grass in seinem Werk „Mein Jahrhundert“ erwähnt, im Eintrag für das Jahr 1903. Für Grass – er schreibt aus der Sicht eines Leipziger Spielers – waren die „schusseligen Herren im KFV-Vorstand“ Schuld gewesen, die sich von dem „üblen Trick“ hinters Licht hatten führen lassen.
Während die Telegramm-Affäre von 1903 (Fußball-)Geschichte geschrieben hat, ist weniger bekannt, dass sich knapp sieben Jahre später ein zweites, dramatisches „Telegramm-Gate“ um den KFV abspielte. Die Schwarzroten mussten am 27. Februar 1910 in Pforzheim antreten und gewinnen, um in der Tabelle mit Phönix Karlsruhe noch gleichzuziehen. Die Abfahrt war auf 11.38 Uhr (und das Spiel auf „½ 3 Uhr“) festgelegt, als Linksverteidiger Hollstein ein in Karlsruhe aufgegebenes Telegramm mit folgendem Inhalt erhielt: „Abfahrt Pforzheim 2.31 Uhr, Spiel 4 Uhr. Max“. Als Holstein sich telefonisch bei Max Schwarze erkundigte, wusste der linke KFV-Läufer allerdings von nichts – bei beiden Spielern schrillten die Alarmglocken! „Böses ahnend verabredeten sie einen Patrouillengang per Rad zu machen, um ihre Mitspieler vor dem Hinterhältigen zu warnen“, wird in der „Süddeutschen Sportzeitung“ berichtet. Und es wurde noch teuflischer: Bei seiner Rückkehr soll Schwarze ein zweites Telegramm von unbekannt vorgefunden haben! Inhalt: „Spiele nicht wegen Todesfall. Keine Besuche. Holstein.“ Der Rest ist bekannt: Der KFV ließ sich vom „Telegramm-Phantom“ nicht verrückt machen, reiste pünktlich an und putzte Pforzheim mit 5:0. Und nach einem 3:0 über Phönix im Entscheidungsspiel wurde man Süddeutscher Meister – und später Deutscher Meister. Auch in diesem Fall wurde der Übeltäter nie ermittelt (vielleicht hätte man bei einem Phönix-Fan nach Hinweisen suchen sollen?). Es gab allerdings mediale Schelte: Der Absender solle sich bittere Vorwürfe machen, dass er die eine Mark für das Telegramm nicht für die nächste Messe zurückgelegt habe (und für den Kauf einiger Zuckerstangen), „denn diese Zeiten scheint er noch nicht so weit hinter sich zu haben. Jedenfalls hätte er dann im höchsten Falle Leibschmerzen bekommen; Was er jetzt bekommt, weiß man noch nicht!“
„Bösewicht“ Carl Perls vom DFB machte übrigens nicht nur durch die verpatzte Meisterschaft 1903 von sich reden: Er kämpfte auch verbissen und bereits ab 1900 gegen englische Begriff und die „Fremdwörterseuche“ (Perls) im deutschen Fußball.
1904: Nächster Skandal — Meisterschaft wird nach Einspruch des KFV abgesagt
Viertelfinale, Deutsche Meisterschaft 1904, 24.04.1904
Berliner T u.FC Union 1892 — Karlsruher FV 6:1 (2:1)
KFV-Aufstellung: W. Langer, E. Schricker, F. Gutsch, Häfner, Dr. Ivo Schricker, H. Ruzek, Schneider, F. Langer, Häring, J. Zinser, L. Heck

1905 — Früher Altmeister gegen späten Rekordmeister: Die erste Begegnung gegen die Bayern
(Aus der Chronik des FC Bayern München)
„Das erste Spiel gegen den K.F.V.
Einen neuen Antrieb erfuhr der F.C. Bayern durch das größte sportliche Ereignis seiner Jugendjahre, als nämlich der damalige Süddeutsche Meister „Karlsruher Fußball-Verein“ auf dem Platz an der Clemenstraße im Mai 1905 nur mit einem Haar seiner ersten Niederlage entging. Mit einem 0:0 zog der gefürchtete K.F.V. damals ab. Das war aber auch ein Spiel wie man es bis dahin in München noch nicht gesehen hatte. Freilich war es nicht so einfach, den berühmten K.F.V. nach München zu bekommen; denn in der Kasse waren wenige Mark und der Einnahmen bei den vorausgegangen Spielen waren ebenfalls nur wenige. Aber der K.F.V. mußte her, koste was es wolle. So gab man denn an die Mitglieder Gutscheine hinaus, um wenigstens das Fahrgeld wie verlangt, vorher nach Karlsruhe senden zu können.“

Deutscher Vizemeister 1905 — KFV erstmals im Finale
11. Juni 1905, Köln: Niederlage trotz holländischer Unterstützung
Endlich war es geschafft! Der KFV stand nach dem 1:0 gegen den Duisburger SV zum ersten Mal im Finale der deutschen Meisterschaftsendrunde. Die Duisburger waren nach einem sehr zähen Kampf besiegt worden, „indem Zinser aus ca. 3 Meter Entfernung einen von Holdermann gezenterten Ball ungedeckt einsenden“ konnte (Neue Sportwoche, 28.05.1905). Die Anfahrt der Spieler und Fans zum Endspiel kannte 1905 noch andere Dimensionen: Neben dem Fahrgeld zahlte der DFB 15 Mark für Unterkunft und Verpflegung. Für den Berliner Kontrahenten des KFV führte der Weg vom Anhalter Bahnhof in der vierten Klasse (Holzbänke) nach Köln, wo sich die Hauptstädter abends erst noch um eine Unterkunft bemühen mussten. Die Berliner Mannschaft wurde von genau einem(!) Schlachtenbummler begleitet: August Winkler, der vom Beruf Löwenbändiger war. Elf solcher Löwenbändiger waren auch auf dem Platz vonnöten, wenn man der zeitgenössischen Sportpresse glauben mochte, die den KFV bereits als großer Favorit handelte. Gekommen ist es – wie so oft im Fußball – ganz anders: Nach 10. Minuten war es schon passiert: „Wagenseil […] ließ eine Flanke Pisaras raffiniert abrutschen und am verdutzten Hüter vorbei ging der Ball hinein“. KFV-Keeper Schierbeek lag mit dem Spielball geschlagen in der rechten Ecke des Tores: 1:0 für Berlin. Geschockt vom frühen Gegentor gelang es den Badenern nicht mehr, entscheidende Spielanteile zu gewinnen. Interessante Randnotiz: In großer Zahl wohnten Holländer (mehrheitlich von Sparta Rotterdam) dem Endspiel in Köln bei. Ob das an den beiden niederländischen KFV-Spielern lag? Offensichtlich war zumindest, auf welche Partei sich der westliche Nachbar schlug: Mit dem Schlachtruf „Hepp, hepp Karlsruhe“, feuerten sie den KFV frenetisch an. Doch auch in der zweiten Hälfte zeigten die Karlsruher keine Leistungssteigerung. Das „Lauf‑, Stoß- und Schwungspiel, [..] das blitzschnelle, von Kurt Heinrich bestimmte Kombinationszüge eingeflochten wurden, spitz und eckig genug“ überraschte den Favoriten. In der 50. Minute sicherte Kurt Heinrich „den Ball, gab ihn flach an Mittelstürmer Frühde, dieser umspielte – Schricker (!!). Der beste Spieler des KFV war Ivo Schricker. Er „trug die ganze K.F.V.-Mannschaft auf seinen Schultern. So war sie durch den unvermuteten Elan der Reichshauptstädter aus den Fugen gegangen“. Dann ein Blitz-Kreuzpaßball zu Pisara, der das ganze Feld aufrollte. Der aalgewandte Linksaußen ging durch. Einen Augenblick besann er sich: sollte er schießen? Schneller als gedacht und gesagt, entschloß er sich zu etwas Besserem, — er gab an seinen Nebenmann rechts ab. Herzog stand so günstig vor der entblößten Torhälfte, daß ein Ruck genügte, um den Ball unheimlich scharf gegen die Netzwand zu stoßen“. Der KFV-Goalmann Schierbeek zeigte ein famoses Spiel, Fritz Gutsch, Adolf Bouvy und Rudolf Wetzler enttäuschten hingegen. Nach dem Spiel wurden beide Mannschaften vom DFB zu einem Bankett eingeladen. Der gastgebende Verein Köln 99 (ein Vorgänger des 1. FC Köln), überreichte den gewinnenden Berliner einen Lorbeerkranz mit roter Schleife und einer Widmung. Kuriose Begleiterscheinung: Wieder angekommen in Berlin, wurden die Spieler der Union wegen der roten Schleife von Polizisten angehalten, da sie in den Spielern verkappte Sozialisten vermuteten, die auf dem Weg zu einer Kranzniederlegung waren („Aber mit Humor und einer Portion Berliner Mutterwitz konnte die Situation geklärt werden“). In Berlin selbst nahm man nicht viel Notiz von der gewonnen Meisterschaft. Union Berlin fusionierte später übrigens mit Vorwärts 90 Berlin zum SV Blau-Weiß 90 Berlin, der 1987 ein kurzes Intermezzo in der Bundesliga einlegte, ehe er 1992 Konkurs anmeldete und schließlich aufgelöst wurde. Als Nachfolger gründete sich 1992 ein Fußballverein mit gleichen Namen, der sich als Nachfolger sieht.
In Köln-Merheim auf dem Platz von Köln 99, standen sich die beiden Kontrahenten 1905 in einem der bedeutendsten Sportstätten Deutschlands gegenüber: Im Weidenpescher Park. 2002 wurden hier noch die entscheidenden Spielszenen für den Film „Das Wunder von Bern“ gedreht. Es ist das Stadion mit der wahrscheinlich ältesten Holz-Stahl-Tribüne des Landes. Ab 2012 wurde das alte Spielfeld teilweise als Parkplatz benutzt.
Endspiel um die deutsche Meisterschaft 1905, 11. Juni 1905:
Berliner TuFC Union 92 – KFV 2:0 (1:0)
KFV: Willem Christiaan Schierbeek, Fritz Gutsch, Adolf Bouvy – Wilhelm Langer, Ivo Schricker, Max Schwarze, Franz Ruzek, Louis Heck, Rudolf Wetzler, Julius Zinser, A. Holdermann
Stadion: Weidenpescher Park, Köln. Zuschauer: 3.500,
Schiedsrichter: Dr. Reginald Joseph Westendarp (Hamburg)
Tore: 1:0 Wagenseil (10.), 2:0 Herzog (50.)



Die Gebrüder Link oder warum der KFV 1906 als amtierender Vizemeister nicht an der deutschen Meisterschaft teilnahm
Der beidfüßig spielende Heinrich Link kam zusammen mit seinem Bruder Eugen von Frankonia Karlsruhe zum KFV. 1905/06 besaß Heinrich Link nur eine Spielgenehmigung für die zweite Mannschaft des KFV und durfte folglich zunächst nicht für die erste Mannschaft spielen. Dennoch wurde er in der ersten Mannschaft eingesetzt, mit dramatischen Folgen: Alle Spiele der Saison 1905/06 wurden gegen den KFV gewertet. Für die Deutsche Fußballmeisterschaftsendrunde wurde der amtierende Vizemeister disqualifiziert. Der peinliche Reglementverstoß wurde später beschwichtigend im Sinne einer „Disqualifikation wegen Formfehler“ totgeschwiegen. Eugen und Heinrich Link blieben dem KFV weiter erhalten. Aus beiden Spielern wurden später erfolgreiche Trainer: Heinrich Link wurde 1921/22 vom FV Daxlanden als Trainer verpflichtet. Link gelang es mit Daxlanden Meister der B‑Klasse zu werden und stieg mit einem Sieg im Entscheidungsspiel gegen Söllingen in die A‑Klasse auf. Nach einer durchschnittlichen Runde 1922/23 wurde der FVD im darauffolgenden Jahr Meister in der A‑Klasse und schaffte damit den Einzug in die erstklassige Kreisliga. Schon im ersten Jahr konnten Links Schützlinge hinter dem Meister KFV den 2. Platz erringen. Eugen Link (21. Juli 1893 in Karlsruhe) trainierte 1925 den 1. FC Bruchsal, der u.a. vom damaligen KFV-Spieler Quasten unterstützt wurde und nur knapp den Sprung in die Bezirksliga Württemberg/Baden, der damaligen höchsten Spielklasse, verpasste. 1934/35 wurde Eugen Link Trainer der 1. Mannschaft des KFV.











Halbfinale 1910: Der älteste Film im deutschen Fußball – und das Spiel des Jahrhunderts
von Thomas Alexander Staisch
Der Film, der Anfang Juni 2013 auftaucht, dauert nur ganze zwei Minuten und 14 Sekunden – ist aber eine echte Sensation. Denn die holprigen Schwarzweiß-Aufnahmen sind stolze 103 Jahre alt und zeigen ein deutsches Fußballspiel in bewegten Bildern! Und das kam so: Als der Autor Thomas Staisch routinemäßig das Archiv des „British Film Instituts“ (BFI) in London durchforstete, entdeckt er einen nicht für möglich gehaltenen Eintrag: „Fussballwettspiel um die Deutsche Meisterschaft in Karlsruhe i.B. am 1. Mai 1910“. Der Satz stellt die bisher bekannte Fußballgeschichte auf den Kopf, denn die frühsten Aufnahmen deutscher Kicker sollen laut DFB, Bundesarchiv u.a. von 1923 und 1924 stammen – und zeigen Länderspiele gegen Holland (0:0) und Italien (0:1). Der Journalist fliegt nach Großbritannien, lässt sich die 35-Millimeter-Rolle ausheben und vorführen. Die Überraschung ist perfekt: Der Streifen ist echt, er zeigt tatsächlich knapp 21 Szenen aus dem berühmten Halbfinalspiel zwischen dem KFV und Phönix.
Und wie wurde der Film (ca. 54 Meter Länge, 16 Bilder pro Sekunde) gedreht? Auf der Höhe eines Strafraums (von der KFV-Tribüne aus gesehen beim rechten Tor) wurde eine einzige Kamera platziert: Kamen die Spieler dann aufs Tor gelaufen, wurde gefilmt – sonst nicht. Bei den Produzenten des Sensations-Streifens handelt es sich vermutlich um die Kaufleute Bernhard Gotthart, Franz Wenk, Franz Steiger und Oscar Köchler, die den Film in ihrem Kino, dem „Welt-Kinematograph“ (1906 eröffnet) in Freiburg und wahrscheinlich auch anderen Lichtspieltheatern vorführten. Auch die Vorgeschichte des Films ist jetzt bekannt: Der Streifen kam von Freiburg per Schenkung oder Verkauf zur berühmten Sammlung des Schweizer Jesuitenpaters und Filmpioniers Abbé Joye (1852–1919), der ab 1900 Vorführungen veranstaltete und 1906 in Basel das erste Filmtheater („Kino Borri“) des Landes eröffnete. Er hinterließ tausende teils verschollen geglaubte Titel, alle auf Nitratbasis, die hochsensibel zu handhaben waren. Grund: Filme mit Nitrozelluloseträger haben eine höhere Sprengkraft als Schwarzpulver und fallen heute unter das Bundessprengstoffgesetz. In den 1970er Jahren wurde beschlossen (da die Schweizer nicht in der Lage waren, die Filme sicher zu lagern), die Sammlung nach Großbritannien zu transportieren und beim „National Film Archive“ in London (zu dem das BFI gehört) Sicherheitskopien anzulegen. Und warum sind nur knapp zwei Minuten statt der damals üblichen acht oder neun Minuten erhalten geblieben? Eine mögliche Lösung könnte mit dem italienischen Historiker Davide Turconi zu tun haben, der bereits in den 60er Jahren versuchte, alle Joye-Filme zu retten. Als er feststellte, dass dies nicht möglich war, entschloss er sich zu einer verzweifelten Maßnahme: Er schnitt aus den Filmen einzelne Stücke heraus, um wenigstens diese Fragmente der Nachwelt zu erhalten. Am Ende sollen es 20.000 „Schnipsel“ gewesen sein, zu denen auch der Karlsruher Film gehört haben könnte
Das Spiele der Spiele
Nüchtern betrachtet traf der Karlsruher FV im Halbfinale um die Deutsche Meisterschaft am 1. Mai 1910 auf Phönix Karlsruhe, gewann im heimischen Stadion an der Moltkestraße mit 2:1 und zog ins Endspiel ein, wo er Holstein Kiel mit 1:0 besiegte und Deutscher Meister wurde. Doch das Match war mehr als das – schon die Filmaufnahmen beweisen das. Es war das Duell der Meister, das Legenden-Derby, das Jahrhundertspiel, das Rekordmatch. Zwischen 6.000 und 8.000 Zuschauer sollen gezählt worden sein: „Es war die größte Zuschauerzahl, die je bei einem Wettspiel zwischen deutschen Mannschaften gesehen wurde“, vermeldete die „Illustrierte Sportzeitung“. Sie schrieb, dass „der Endspielgegner von Holstein Kiel in jedem Fall die Fußballhochburg Karlsruhe stellt: KFV, der so oft verhinderte Meister oder Phönix, der sich aus der Asche des Außenseiters zum erbitterten und als Vorjahresmeister erfolgreichen Konkurrenten erhoben hat“. Und: „Das Interesse ist außergewöhnlich und es steigerte sich noch, weil das Resultat entscheiden wird, ob der bisherige Meister oder der Meister von Süddeutschland am Entscheidungsspiel um die Deutsche Meisterschaft teilnimmt. Man schätzt den KFV und Phönix mit Recht als die beiden besten deutschen Mannschaften!“ In „Deutschlands Fußball-Meister“ ist zu lesen: „Nur über den gewaltigen Rivalen ging also der Weg des KFV. Der Zusammenprall dieser Karlsruher Nebenbuhler zur Zeit ihrer größten Machtentfaltung gehört zu den denkwürdigsten Geschehnissen der Fußballgeschichte. Das erbitterte Ringen endete mit dem knappen 2:1‑Sieg des KFV. Der Deutsche Meister hatte weichen müssen, doch der stolze Titel sollte dennoch in Karlsruhe bleiben.“ Josef Michler dichtete: „Diese vorentscheidende Begegnung mit seinem schärfsten Widersacher galt als die in Wirklichkeit schwerste Prüfung des deutschen Fußball-Jahres 1909/10. Ein tiefblauer Himmel, so blau wie die Teilstreifen auf den Phönix-Trikots, wölbte sich über einem der wildesten, zugleich aber fairsten Fußball-Wettkämpfe, die je stattfanden!“ Und legte noch eins drauf: „Stolz tragen die Anhänger ihre Vereinsfarben weithin sichtbar als Strohhutband, schwarzblau Phönix, schwarzrot der KFV. Es ist eine Rivalität, die die ganze Stadt beherrscht – und sollten Sohn und Tochter zweier so gegensätzlich eingeschworenen Fußballfamilien in heimlicher Liebe entbrennen, so könnte es wie ein Motiv aus Romeo und Julia anmuten.” Bezeichnend auch, was der „Fussball“ nach der Begegnung schrieb: „Der Name Karlsruhe bedeutet ein Programm im deutschen Fußballsport, ihn umgibt der Nimbus des Vollendeten, Erreichten, wenn er in Verbindung mit den fußballsportlichen Ereignissen gebracht wird“.
Geheimnisvolle Verletzte – und ein Protest
KFV-Stürmer Trump hätte die Spiel entscheidende Figur des insgesamt vierten Duells der Stadtrivalen im Jahr 1910 (Phönix hatte zuvor zwei Begegnungen gewonnen, der KFV eine) werden können – und wurde es dann doch nicht. Der Krimi: Bereits nach 14 Minuten musste der Angreifer verletzt vom Feld: „Dem körperlich starken Halblinken Trump passierte ein Missgeschick, das damals Sehnenzerrung genannt wurde. Der schussgewaltige Mann brach zusammen und schied gänzlich aus. Da noch fast 80 Minuten zu spielen waren, kann sich jeder leicht ausmalen, was diese Schwächung für den Titelanwärter ausmachte!“, so Michler. Mysteriöserweise berichten andere Quellen, dass auch Phönix das Match nicht komplett beendet haben soll – Läufer Adolf (und wohl nicht Emil) Firnrohr soll das Opfer gewesen sein. Die „Illustrierte Sportzeitung“ beharrte auf Version eins: „Der KFV war genötigt, fast das ganze Spiel mit zehn Mann durchzuführen, da sein halblinker Stürmer nach den ersten 15 Minuten aussetzte, aber auch Phönix war geschwächt, da er für seinen famosen Mittelstürmer Leibold Ersatz einstellen musste“. Das Drama um Trump ging noch weiter: Nach dem Match legte Phönix (erfolglos) Protest beim DFB ein – Trump sei nicht spielberechtigt gewesen.
Ein Schauspieler im Kasten, zwei „falsche Einser” und ein Zaubertor
Besonders für KFV-Torwächter Adolf Dell sollte das Derby eine echte Nervenschlacht geben: Über den sensiblen Goalie, der nach seiner Karriere als bekannter Bühnenschauspieler (unter Gustaf Gründgens!), Film- und Fernsehstar sowie preisgekrönter Maler im Rheinland gefeiert wurde, ist jedenfalls bekannt, dass er später im Finale vor Aufregung – laut eigenen Angaben – „halb ohnmächtig“ geworden ist. Und dass er sich gegen Phönix zur Verstärkung zwei Feldspieler mit ins Tor (!) holte. Kein Witz: „In der letzten so kritischen Viertelstunde wurde die Torsicherung mit allen Schikanen wie Menschenmauer, drei Mann im Tor oder Läuferstürmer vorgenommen“, berichtete Michler in seinem Buch „Mittelläufer spielen auf“. Und ergänzte: „Der KFV hatte bei einem Strafstoß Breunig und Hübner, diese zwei Riesengestalten, neben dem gleichfalls stattlichen Dell ins Tor genommen. In 99 solcher Fälle lohnt sich eine derartige Anordnung!“ Doch in der 67. Minute trat der unwahrscheinliche 100. Fall ein: Obwohl der KFV das Tor verrammelt hatte, schoss Phönix den Anschlusstreffer. Und das kam so: „Wirklich versperrten auch die drei Hüter fürs erste dem ganz verwegen gedrehten Ball den Zutritt. Aber, schlecht zu fassen wie die trudelnde lederne Nudel war, kam sie einem Bumerang gleich nochmals aufs Tor zurück. Und bevor die im Torraum zusammengezogenen übrigen KFV-Streitkräfte oder einer der drei Torwächter dem Ball nahekamen, der seitlich des rechten Pfostens gegen die Torlinie zurollte, schoss ein Blau-Schwarzer heran. Es war der rötlich leuchtende Arthur Beier, der, seinen Stürmern voraus, vom eigenen Überschwang fortgerissen, mit einem Bein fast außerhalb des Spielfeldes stand. Er hatte gerade noch soviel Kraft, zu bremsen und sich herumzureißen, schwang das andere Bein aus, traf den Ball. Und aus dieser unmöglichen Stellung neben dem Pfosten ward der Ball auch ins Netz gehakt!“
Das Phantom-Tor
Vom spektakulären Match findet sich in Chroniken und Zeitungen ein wiederkehrendes Motiv: Das Bild zeigt das 2:0 für den KFV. Und auch die Bildunterschrift ist immer die gleiche: „Ein denkwürdiger Augenblick: K.F.V. hat ein Tor erzielt (Fuchs mit dem Ball im Tor)“. Die Folge war, dass in den meisten Abhandlungen über das Spiel bis zum heutigen Tag Goalgetter „Gotti“ Fuchs als Torschütze geführt wird. Die Wahrheit ist aber: Fuchs hat sicher 1000 Treffer erzielt, diesen aber nicht! Denn tatsächlich hatte Verteidiger Hans „Bock“ Ruzek (der laut Michler eine Nase „wie ein riesiger Papageienschnabel“ gehabt haben soll) den armen Dr. Göltz mit einem Weitschuss (damals ein „langer Schuss“) überrascht, der im Strafraum lauernde Fuchs war nur durchgelaufen – vielleicht, um auf Nummer sicher zu gehen oder das Goal hinter der Linie gebührend zu feiern. Beweise für das Distanztor gibt es zu genüge, auch Augenzeuge Neumaier hatte in seinen Tagebüchern berichtet: „Zu Halbzeit führte KFV durch einen ungerechten Elfer und ein Leichtsinnstor von Freund Gölz (Schuss von 20–25 Meter)“. Kurioserweise hielt das viele Reporter nicht davon ab, von „Gottis“ Traumtor zu schwärmen: „Im rasenden Kampf lagen die KFVler durch Tor-Einlauf Fuchs’ vorne. Sein Vordringen über das halbe Spielfeld von ‚Ottl’ Reiser an über Karth, Neumaier bis zu Göltz im ewig denkwürdigen Vorschlussspiel, dieses Hinfliegen, diese Ballbehandlung, konnte ihm niemand nachmachen“ – so Josef Michler, dem man aber zugute halten muss, dass er seine Zeilen erst 20 Jahre nach dem Match zu Papier brachte.
Das Match war auch aus fotografischer Sicht herausragend: Existierten bei „gewöhnlichen“ Spielen der Kaiserzeit entweder gar keine Aufnahmen oder nur Mannschaftsbilder, so waren Bilder der Tore eine absolute Sensation. Dass vom Derby gleich neun Fotos überliefert sind und zwei der drei Treffer für die Ewigkeit festgehalten worden waren, beweist die Einzigartigkeit der Begegnung. Der Eindruck wird auch dadurch nicht geschmälert, dass das 1:0 durch Breunig ein („unheimlich scharfer“) Elfmeter war – und sich die Fotografen also hatten vorbereiten können.
Übersichtsbilder wie diese, von den Zeitungen gerne „Spezialaufnahmen“ genannt, genossen damals Seltenheitswert. Bedanken musste man sich bei den Kletter- und Fotografierkünsten eines Redakteurs namens Eugen Seybold. Der Fußballfan war bei dem Jahrhundertspiel auf das Dach der KFV-Tribüne und des Klubhauses gekraxelt und hatte die sensationellen Bilder für die „Illustrierte Sportzeitung“ geschossen. Später gab er als Verleger die Sportzeitung „Fussball“ heraus. Weil er dort regelmäßig dafür sorgte, dass „seine“ Karlsruher Mannschaften nie zu kurz kamen, haben hunderte historisch einmalige Aufnahmen von KFV und Phönix überlebt – und wurden noch Jahre nach der Glanzzeit des Karlsruher Fußballsports stolz abgedruckt. So zeigte der „Fussball” noch 1922 und 1940 ein Bild, dass seinesgleichen sucht. Zum ersten Mal wurden auf einem Foto (fast) alle Spieler eines Matches abgelichtet! „All die bekannten Spieler in taktisch vorbildlicher Kampfaufstellung“ gab den Journalisten nun die Möglichkeit, die Szene einer ausführlichen Analyse zu unterziehen. Dass es sich bei dem „packenden Augenblick“ und „Dokument aus klassischer Fußballzeit zweier Deutscher Meister“ nur um einen Einwurf von Robert Heger handelte, war dabei nicht so wichtig.
Die Legende von den zwei Blasen
Die aufsehenerregendste und gleichzeitig schönste Geschichte des Spiels ist die so genannte Legende der zwei Blasen. Obwohl der KFV vor dem Derby als Favorit galt, konnte sich die Karlsruher Bevölkerung laut Medienberichten nicht auf einen Sieger festlegen: „Jeder kann gewinnen, der Ball ist rund!“, so die allgemeine Aussage. Doch damit hatten sich die Fans getäuscht: „Dieser spezielle Ball vom 5. Mai ist nicht rund. Er enthält zwei Blasen, eine davon aufgepumpt und gleicht so einem Rugbyei“, will Fußballexperte Josef Michler („Ein komischer Ball!“) mit Bestimmtheit wissen. Und er kennt die Folgen: „Die meisten Phönixler waren furchtbar erregt und brachten mit dem unberechenbar, doppelmannshoch aufspringenden Ball ganz verdrehte Schläge heraus, da sie vor lauter Hast das Stoppen vergaßen. Ein Nachteil weniger für den KFV-Flachpass als für Phönix’ hohes Flügel- und Kopfballspiel. Tatsächlich verfehlen die gefürchteten Flanken der Nationalflügel Oberle und Wegele verhältnismäßig häufig ihr Ziel!“ Und auch der „Fussball“ berichtet: „Wegele, der sonst so exakt flankte, brachte den funkelnagelneuen Ball nicht hoch, Karth fabrizierte ungewohnte Kisten, während das Townley-System [„stoppen, schauen, zuspielen“ statt „hart und weit schießen“] unter solchen Ballnauben naturgemäß weniger litt.“
Über den weiteren Verlauf des Skandals gibt es zwei Fassungen: Michler schreibt, dass das Publikum und die Phönix-Spieler „stürmisch, laut und anhaltend Ersatz“ forderten – und bekamen. Aber auch dieses Spielgerät hätte geeiert: „Es kam ein zweiter Ball, um nichts normaler!“, berichtet auch die Phönix-Chronik. Im „Fussball“ wird erzählt, dass der Schiedsrichter den Ball einer Prüfung unterzog, für gut befand und mit dem alten Spielgerät weitermachen ließ. Und obwohl das Ei „bis zum Ende“ bzw. „bis zum Abpfiff“ im Einsatz gewesen sein soll, kann damit eigentlich nur die erste Halbzeit gemeint gewesen sein. Die Phönix-Verantwortlichen gaben dem Ei gar die Schuld für den Treffer zum 2:0: „Das zweite Tor war direkt belustigend, wäre nicht so viel auf dem Spiel gestanden. Ein schwacher Schuss, ein harmloser Roller. Im Augenblick, wo Göltz ihn aufnehmen will, schlägt der schalkhafte Ball einen Haken und setzt seinen Weg ungefährdet in die rechte untere Ecke fort!“ Wahr ist jedenfalls, dass die Phönix-Anhänger KFV-Trainer Townley aufs Korn nahmen: „Englische List und Tücke!“, protestierten sie. Zudem machte sich ein schwarzroter Kicker verdächtig: Der erfahrene Hans Ruzek, „ein notorisch trickreicher Spieler“, schnappte sich nach dem Spiel „in großer Eile“ den Ball und brachte ihn unter dem Arm ins Clubhaus – und entzog ihn so einer späteren Kontrolle. Bezeichnend ist vielleicht auch, dass KFV-Star Tscherter den Absatz über den getürkten Ball in seiner eigenen Zeitungsausgabe zwar extra rot angestrichen, aber keine Widerworte o.ä. an den Rand notiert hatte.
Und während die Phönix-Chronik den Betrug offen ansprach („Heute wissen wir, dass in dem in diesem Spiel verwendeten Ball eine zweite Gummiblase war und er dadurch exzentrisch und viel zu schwer gemacht wurde“) baut die KFV-Chronik auf ausgleichende Gerechtigkeit: „Mag diese Behauptung stimmen oder nicht, es wird wohl – wie das gefälschte Telegramm – ein ewig unlösbares Rätsel bleiben“.
Erregte Spieler, „Nerven-Erschütterungen“ – und ein Thronwechsel
Der Rest vom Spiel ist schnell erzählt. Die Reporter erkannten eine „begreifliche Erregung der Spieler“, ein „verrückt aufregendes und aufgeregtes Match“, „eine Menge Einzelheiten, die guter englischer Amateurklasse gleichgestellt werden können“ sowie einen KFV, der „vor der Pause durch geradezu wunderbare Leistungen seinem Gegner sehr hart zusetzte“, ein „halbstündiges Bombardement“ abfeuerte und dass dies, zusammen mit der „hervorragenden Verteidigung des Phönix“, zu einem „glanzvollen Fußballwettkampf“ führte, der „oft durch den begeisternden Beifall des Publikums unterbrochen wurde.“ Nach Abklingen der durch den getürkten Ball verursachten „Nerven-Erschütterung“ und „Panik“ der Phönix-Spieler „gelang ihnen, die sonst so blendende Kombination des Gegners zu zerstören und mit der ihnen eigenen Pfeilgeschwindigkeit dem anderen Tor entgegenzustreben!“ Der KFV geriet ins Schwimmen: „Wenn andere Mannschaften vor Bedrängnis und deren Abwehr Schweißströme vergossen, dann hat KFV hier Blut geschwitzt. Doch verließen ihn selbst dann die Kräfte und die ruhige Selbstbeherrschung nicht, als Phönix durch ‚Vater’ Beier seinen Torvorsprung kürzte.“
Der „Thronwechsel unter den Karlsruher Meistern“ (Michler) rückte näher – und wurde zum „heroischen Kampf von zehn KFV-Spielern“ (KFV-Chronik). „Phönix griff wohl zum Schluss noch an, als kämen Meereswogen daher. Allein Förderer verteidigte als sogenannter fliegender Läufer und schlug mit einer Vehemenz die Bälle zurück, dass sich nur noch die Arbeit Holsteins damit vergleichen ließ, wenn er, in der Luft stehend oder liegend, drei Angreifer mitzutragen hatte und doch die Bälle wegbrachte. Tscherter [der die Kunst des „Umschweifens“, also den Ball am Gegner vorbeilegen, perfektioniert haben soll] und Fuchs schafften durch Einzelläufe über dreiviertel der Spielfeldlänge vorübergehend Luft. Trotzdem war der Schlusspfiff eine Erlösung für den KFV!“, liest man im „Endspiel-Fieber“. Und auch Neumaier musste in seinem Tagebuch anerkennen: „Nach Halbzeit hatten wir das Spiel ganz in der Hand, konnten jedoch gegen zu feste Mauern des KFV nicht gleichziehen.“ Als der KFV später Meister wird, ist die Rivalität schon fast vergessen: „Ein ethischer Höhepunkt war, als unter den ersten Telegrammen noch am Abend ein Glückwunsch des Altmeisters und Lokalrivalen ‚FC Phönix’ einlief“, freute sich die KFV-Chronik.
(aus der Badischen Presse vom 8.1.1928, No. 13)
Soeben hatte an einem wunderschönen ersten Maitag 1910 der K.F.V. seinen ebenbürtigen Rivalen Phönix im schweren Kampf des Zwischenrundenspiels um die Deutsche Meisterschaft besiegt. Er, der weniger hart Getroffene, von zwei Unglücklichen, wurde zum Ventil, durch welches sich die Enttäuschung der in ihrer Überzahl phönixgetreuen Zuschauer Luft machte. Der Abstrom der Enthusiasten bildete Wirbel. Am Eck der Telegraphenkaserne staute er sich und glich einem grollenden Wasserbecken, das jeden Augenblick seine Massen über zwei arme Radfahrer schütten konnte: Max Breunig und Julius Hirsch.
Das Murren der Fanantiker ging in Schmähungen über: „Da kommet se, de Maurer!“ Ganz freche höhnten: „Maurerbuwe!“ Andere markierten moralische Entrüstung: „Solltet euch schäme! Hätt‘ leicht no‘ ein paar Mann ausleihen müssen, für Euer Tor zu verkleistern!“ Ganz rabiate warfen ernstlich die Frage auf, ob sie den Radfahrern, die noch nicht aufgesessen waren, überhaupt einen Abgang, zum mindesten aber einen bößen gönnen sollten. Eine Menschenkette zog sich über die zum allzeit staubigen Exerzierplatz führende Straße. Der große, pechhaarige, ewig gelb gesichtige Max bewegte nicht im Geringsten die Lippe. Er schwang sich seelenruhig auf sein gar nicht gepflegtes Rad trat dann gemütlich die Pedale, und erst als der Renner sich quietschend fortbewegte, drehte er sich um, pfiff seinem Juller und rief ihm lachend zu: „Schau nur, daß du nachkommst Juller, gleich leg‘ ich e‘ mächtiges Tempo vor! Die erbosten Phönixanhänger hatten schon längst ihre Hände gelößt, staunend bildeten sie das Spalier für die beiden K.F.V.-ler die sich auf ihren ächzenden „Rennern“ im Zuckeltrab fortbewegten und mit keinem Gedanken der Meute achteten, die sich damit begnügte, ihnen nur ein paar knurrende Leute nachzuschicken. Langsam entschwanden beiden den Blicken der Gebändigten. Zuletzt war nur mehr Hirschens großer Kapuzenmantel zu sehen, der im Rande des Exerzierplatzes und vor dem Mailüftchen wie der Burnus eines Arabers flatterte.





Finale — 15. Mai 1910, Köln: Der größte Tag!
Die Partie begann an diesem heißen Pfingstsonntag turbulent. In der ersten Halbzeit lenkte ein Kieler Verteidiger regelwidrig einen Ball mit der Hand ab, was Schiedsrichter Gräfe aber nicht sah. Es wäre ein sicheres Tor gewesen. Der kräftige Friedrich Werner von Holstein rannte schließlich einen KFV-Spieler um: Strafstoß! Der Elfmeterspezialist Breunig trat an: „Aber auch der stärkste Strafstoßschütze kann sich mal in der Höhe des Tores versehen: Breunig trat den Ball über die Latte, daß das Projektil erst 50 m weiter hinten zu Boden kam!“ Kurz vor der Halbzeit geriet auch der KFV-Keeper Dell in größere Bedrängnis, hielt jedoch das Unentschieden fest. 0:0 zur Pause. „Das Cölner Publikum schien sich in zwei Hälften geteilt zu haben: hie Holstein — hie Karlsruhe“ (Neue Sportwoche). In der 2. Halbzeit gewann der KFV zusehends Spielanteile: „Fortsetzung des Monologs, den die Badener den Waterkantlern hielten“. Die Eckball-Bilanz nach Abpfiff des Spiels lautete 12 zu 2 für den KFV! Gottfried Fuchs „wandte sich schlangengleich durch die gesamte Deckung und Wehr, schoß aber vorbei“. In der 87. Minute vergab Fuchs erneut eine „Hundertprozentige“. Nach 90. Minuten kam es zum Novum in der Geschichte der deutschen Fußballmeisterschaft: Es war das erste Endspiel das in Verlängerung gehen musste. Dass es überhaupt so weit kam, lag auch an dem Kieler Torhüter Adolf Werner, der ein überragendes Spiel machte. In der 114. Spielminute dann der magische Moment: „9 Minuten des zweiten Stundenviertels waren bereits verflossen, als ein schriller Pfiff das Leben auf dem Spielfeld einige Momente erstarren ließ. Was war los? Die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten. Karlsruhes Linksinnen (Hirsch) war nach Auffassung des Unparteiischen regelwidrig gestoppt worden.“ Auch dieses Mal schnappte sich Breunig den Ball, der – wohl aufgrund der Nervösität – abermalig nur schlecht geschossen wurde. Der Ball „sauste auf den Gegner zu, schon hatte dieser die Lederkugel gefaßt – Chance wieder dahin? Doch eher als gefragt kam die Antwort! Von der ungeheuren Wucht des Schlages wurden Arm und Hand Frieses mitfortgerissen. […] Es langte auch schon, daß sie ein Stücklein mitflogen und erst hinter der Torlinie durch eine große Willens- und Muskelanstrengung ihres Besitzers in dieser Rückwärtsbewegung gehemmt werden konnten. Aber die Hand war glücklich verstaucht und der Ball glücklich oder unglücklich – je nachdem – im Tor“. Der Jubel kannte nach Abpfiff der 120 Minuten kein Halten mehr: Der KFV war deutscher Fußballmeister!


Das Fest ging am Folgetag im Mannschaftshotel des KFV weiter (Badische Presse, 20.06.1942, No. 142): „Standardquartier der Karlsruher war seinerzeit in Köln das Hotel „Kaiser Wilhelm“. […] Am Montag nach dem Spiel, nach dem Festsommers, war am Frühstückstisch die reinste Faschingsstimmung. Einer kam auf den ausgefallenen Gedanken, eines von den appetitlichen Butter-Röllchen nach der Decke zu werfen. Es blieb oben hängen. Das böse Wettspiel machte Schule, sofort war ein richtiges Bombardement im Gang. Alles warf Butter-Röllchen, ohne an Schaden und Ungehörigkeit zu denken, aus lauter Übermut. Und als die lustige Korona abzog, war die Decke reichlich mit Butter-Zäpfchen behangen. Es sah fast aus wie in einer Tropfsteinhöhle. Nun erzählt Ernst Hollstein, einer von den damaligen, daß er 1917 als Soldat einmal in Köln durchreiste und eingedenk schönerer Zeiten wieder im „Kaiser Wilhelm“ abstieg. „Ich nahm mein Frühstück im selben Raum, in dem wir damals als neugebackene deutsche Fußballmeister saßen und sah mich in seliger Erinnerung in den vier Wänden um … waren da an der Decke tatsächlich noch Fettflecken zu sehen – die Spuren unserer Butter-Röllchen vom Pfingstmontag 1910 …“
Endspiel um die deutsche Meisterschaft 1910, 15. Mai 1910:
KFV – FV Holstein Kiel 1:0 n.V.
KFV : Adolf Dell – Carl Hübner, Ernst Hollstein – Hans Ruzek, Max Breunig, Max Schwarze – Fritz Tscherter, Fritz Förderer, Gottfried Fuchs, Julius Hirsch, Hermann Bosch
Weidenpescher Park, Köln. Zuschauer: 5.000, Schiedsrichter: Max Grafe (Leipzig)
Tore: 1:0 Breunig (114., Elfmeter)




Vizemeister 1912
26. Mai 1912, Hamburg: Hollstein gegen Holstein
Aus allen norddeutschen Städten kamen am Pfingstmontag 1912 Zuschauer nach Hamburg, um das Spektakel zwischen Holstein Kiel und dem KFV mitzuverfolgen. 9000 Zuschauer!
Die Karlsruher bereiteten sich auf dieses Finale so gut vor, wie noch nie. Für drei Tage verpflichtete der KFV erneut Meistertrainer William Townley (inzwischen Trainer in Fürth). Am Vorabend lagen die Karlsruher Spieler bereits um neun Uhr in ihren Hotelbetten. Doch ein „Handicap bedrückt sie: Fuchs […] ist verletzt. Mannschaftskapitän Fritz Tscherter erklärt: Du kannst nicht spielen. Fuchs: Ich will aber spielen.“ Die Knieverletzung zog sich Fuchs beim vorherigen Meisterspiel zu. Townley entscheidet darauf, Fuchs eine Gipsbandage zu verabreichen und ihn aufzustellen.
Matchday, 26. Mai: Wie so oft in der Geschichte des Fußballs, enttäuschte auch dieses hochgehandelte Finale die Zuschauer: „War das Aeußere angetan, etwas ganz besonderes erwarten zu dürfen, so war man leider von dem Kampfe selbst enttäuscht“. Die Kieler gewannen letztlich verdient die Meisterschaft, weil sie ganz gewiss besser und gefährlicher auftraten. Der KFV zeigte seine technische Überlegenheit, blieb aber völlig unter seiner Form. „Nur der eiserne Verteidiger Ernst Hollstein zeigte große Klasse“. Aber der Reihe nach:
Nach Anpfiff des Finals spielt der KFV zunächst „gegen Sonne und Wind und wird etwas zurückgedrängt“, aber die KFVler Hollstein und Burger halten hinten zuunächst alles sauber. Einige Male wird Kiel gefährlich, doch bis zur Halbzeit möchten auf beiden Seiten keine Tore fallen. In der Halbzeit schneidet Townley die Gipsbandage von Fuchs auf. Zu sehr behindert sie den Topstürmer der weit unter seiner Form agiert. In der zweiten Hälfte spielt der KFV nun mit dem Wind im Rücken und wird von den Zuschauern bereits als der sichere Gewinner gehandelt. Hirsch arbeitet sich einige Mal nach vorne, blieb aber ohne Erfolg. Die Norddeutschen strahlen durch ihr starkes Spiel auf den Flügeln vergleichsweise eine größere Torgefährlichkeit aus. Als Fick II im Karlsruher Strafraum unfair vom Karlsruher Hübner zu Boden geworfen wird, gibt Schiedsrichter Schröder einen Elfmeter für die Norddeutschen. Es herrscht Unruhe bei den Norddeutschen. Der Kieler Keeper Werner erinnerte sich noch lange Zeit nach dem Finale an die Anspannung vor dem Elfmeter: „Wie der Mann [Anmerkung d. Red.: der Schiedsrichter] die elf Meter abschreitet! Pedantisch genau, Haken auf Haken. Wie er noch um eine Spannweite korrigiert, wie er den Ball niederlegt, schrecklich!“ Der Kieler Nationalstürmer Möller verwandelt mit einem scharfen Schuss in die linke Ecke. 1:0 für Kiel! Auf Seiten des KFV enttäuschte insbesondere der berühmte, internationale Innensturm. Nur selten zeigte der KFV das „vielgerühmte blitzschnelle Durchpassen mit anschließenden Schuß“. „Die Hauptschuld an dem Versagen ist Förderer zu geben, denn dieser fungierte im ganzen Spiel als überzähliger Läufer, und stand häufig noch hinter Breunig“. Als er nach vorne aufrückte, standen die Norddeutschen bereits hinten und deckten. Nach dem Rückstand versucht der KFV nervös auszugleichen. Förderer „geht in Mitte, bald darauf halbrechts und spielt wieder als vierter Läufer“. Ein wenig unsortiert und behäbig wirkten die KFV-Angriffe. Gottfried Fuchs „ist seltsam bewegungslos“. Ein Redakteur schreibt nach dem Spiel etwas boshaft über Fuchs: Er „erinnerte mich lebhaft an jenen englischen Internationalen, von dem eine Zeitung schrieb, ein Zuschauer habe sich wegen der Zahlung des Eintrittsgeldes beschwert, weil dieser Internationale das Spiel viel besser sich habe ansehen können, obwohl er dafür nicht bezahlt habe. Auch Fuchs hat das Spiel, wenn auch nicht besser, so doch aus nächster Entfernung gesehen; er war Statist.“
Der Siegtorschütze von 1910, Max Breunig, zeigte eine durchschnittliche Leistung. Man hatte sich mehr erhofft. Bosch dagegen spielte gut, Hollstein war der vermutlich beste KFV-Mann auf dem Platz und verhinderte zusammen mit dem ebenfalls überzeugenden Torwart Burger noch weitere Gegentore. Kiel gewann nach dem Führungstreffer an Selbstvertrauen. Mit den Zuschauern im Rücken stürmen sie weiter an, aber Ernst „Hollstein zerstört alles“. Am Ende gewinnt Kiel gegen den Favoriten KFV und wird zum ersten Mal deutscher Fußballmeister!
Endspiel um die deutsche Meisterschaft 1912, 26. Mai 1912:
FV Holstein Kiel – KFV 1:0 (0:0)
KFV: Franz Burger, Carl Hübner, Ernst Hollstein, Wilhelm Gros, Max Breunig, Hermann Bosch – Fritz Tscherter, Fritz Förderer, Gottfried Fuchs, Julius Hirsch, Hermann Kächele
Victoria-Platz, Hamburg-Hoheluft, Zuschauer: 9.000, Schiedsrichter: Paul Schröder (München-Gladbach)
Tore: 1:0 Möller (52., Elfmeter)











Sportlicher Abstieg und 1. Weltkrieg
Nach der Süddeutschen Meisterschaft 1912 zeigte die Leistungskurve des KFV dann aber deutlich nach unten. Mit Julius Hirsch verließ einer der besten Stürmer den Verein, er folgte dem Trainer Townley nach Fürth, wo er mit der dortigen Spielvereinigung 1913 noch einmal Deutscher Meister wurde. Der Kapitän und Mittelläufer Max Breunig wechselte zum FC Pforzheim und der linke Verteidiger Ernst Hollstein beendete wegen seines Studiums die aktive Laufbahn. Zudem brach sich Fritz Förderer 1913 das Bein und fiel lange Zeit aus.
1914 trat das nicht für möglich gehaltene dann ein: der KFV musste nach der Niederlage gegen den Lokalrivalen FC Phönix am 22. März 1914 den bitteren Weg des Abstiegs gehen. Die seit 1911 in München erscheinende Fachzeitschrift „Fußball“ widmete dem KFV einen „Nachruf“: „Der KFV ist der populärste Fußballverein innerhalb Deutschlands gewesen, seine Geschichte ist eng verwachsen mit dem Werdegang des deutschen Fußballsports; für unsere Bewegung bedeutet der Name KFV ein Programm. Die spielerischen Erfolge des KFV sind ohne Beispiel. Höhepunkte des deutschen Fußballsports sind mit der Fähigkeit dieses Vereins verbunden.“ Doch die Rettung nahte. Der süddeutsche Verbandstag in Nürnberg beschloss mit allen Stimmen der dort vertretenen Vereine, durch eine Änderung des Spielsystems den Verbleib des KFV in der höchsten Spielklasse.
Die Aufrechterhaltung des Spielbetriebs gelang während des 1. Weltkriegs infolge der zahlreichen Einberufungen nur unter erschwerten Bedingungen. Einige Spieler der Finalmannschaften von 1905, 1910 und 1912 fielen während des 1. Weltkrieges, so wie der rechte Läufer Hans Ruzek (08. November 1914), der Verteidiger Kurt Hüber (17. August 1915), der Linksaußen Hermann Bosch (16. Juli 1916) und der rechte Läufer Wilhelm Gros (22.08.1917). Auch der junge Verwaltungsaktuar (Beamter) Hermann Kächele (geb. 24. Mai 1890 in Karlsruhe), der 1912 Vizemeister wurde und ein hoffnungsvolles Sturmtalent der Karlsruher war, fiel bereits am Vormittag des 13. August 1914 im elsässischen Brückensweiler (Bréchaumont) zwischen Belfort und Mühlhausen als Unteroffizier der Reserve der 4. Kompanie (heute ruht er in Block 7 Grab 507 in der Kriegsgräberstätte in Cernay, Frankreich) – zehn Tage nach der deutschen Kriegserklärung an Frankreich. Der auf dem Platz stets in schwarz gekleidete Franz Burger (geb. 1893; aufgrund seiner schmächtigen Gestalt meist nur „das Burgerle“ genannt), ebenfalls Vizemeister von 1912, trug eine schwere Augenverletzung mit nach Hause, so dass er nicht mehr spielen konnte. In seinen letzten Tagen vor seinem Tod im November 1940 war er gar vollkommen blind.


EXKURS: Der Kronprinzenpokal – Deutschlands erster nationaler Pokalwettbewerb
Die Gravur des Silberpokals sagte schon alles: „Seine Kaiserliche und Königliche Hoheit Wilhelm, Kronprinz des Deutschen Reiches und von Preußen stiftete im Jahre 1908 diesen Pokal als Wanderpreis für Fußball-Wettspiele zwischen den repräsentativen Mannschaften der Landesverbände des Deutschen Fußball-Bundes“ (der erste deutschlandweite Wanderpokal des Fußballs). Die Teilnehmer des Pokals waren nicht wie im heutigen DFB-Pokal Vereinsmannschaften, sondern repräsentative Auswahlmannschaften der Landesverbände (z.B. Norddeutschland, Westdeutschland). Der Wettbewerb mit dem klangvollen Namen wurde zwischen 1909 und 1918 achtmal mit einem Endspiel in Berlin ausgespielt. Die Tradition, dass Finale in Berlin auszuspielen („Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“) hat bis heute überlebt! Nach der Monarchie wurde er 1919 in Bundespokal umbenannt und durchlief bis heute eine Reihe von Formatänderungen (Reichsbundpokal und schließlich Länderpokal der Amateure). 1910, 1912 und 1914 ging der Titel an die Auswahl des Verbandes Süddeutscher Fußball-Vereine – unter wesentlicher Beteiligung der KFV-Spieler. Da der KFV sowie der FC Phönix zu den führenden Vereinen im Süden gehörten, stellten die beiden Klubs konsequenterweise auch einen Großteil der Spieler.
Durch das Engagement des Kronprinzen, der in England mit dem Fußball in Berührung kam und die Schirmherrschaft des Pokals übernahm, erfuhr der noch junge Fußballsport eine gesellschaftliche Aufwertung, ganz ähnlich wie in Baden, wo ein anderer Aristokrat, Prinz Max von Baden, Protektor des KFV wurde. Der Pokal wurde zunehmend populär in der Bevölkerung, die Medialisierung des Sports (Berichterstattung, Gründung von Fußballzeitschriften) sowie die Ökonomisierung von Seiten des Verbandes (Umzäunung von Spielfeldern und Eintrittsgelder) wurden weiter ausgebaut.
Das Endspiel der vierten Auflage des Pokals ist in die KFV-Annalen eingegangen: „Da ist vor allem der Platz (Union) zu rügen, auf dem trotz der Unmenge von Sägemehl die Spieler bis zum Knöchel einsanken. Dann reichte der Raum für die über 6000 Zuschauer lange nicht aus, außerdem waren die Zu- und Ausgänge schmutzig“ kritisierte die Sportpresse. Ferner wurden die Eintrittsgelder (man zahlte drei Mark für die Tribüne; 2,50 Mark für einen Sitzplatz und Schüler sowie Soldaten 40–50 Pfennig) heftig kritisiert. Die Mannschaften – Süddeutschland und Berlin – wurden „in schrecklichen elektrischen Rumpelkästen (Auto-Omnibus genannt)“ vom Hotel zum Stadion gefahren. Aufgrund der Kälte, lief KFV-Stürmer Gottfried Fuchs sogar in einem adretten Wollschal auf. Der KFV stellte sechs (!) Spieler der Finalelf aus Süddeutschland. Die „Kanonen der VSFV-Auswahl“ (Illustrierte Sportzeitung) gaben dann auch den Ton an: Fuchs erzielte drei, Hirsch zwei und Förderer ein Tor. Ein KFV-Torspektakel! Fuchs dribbelte im Spiel „durch fünf Gegner“ und Förderers einzigartige Ballbehandlung ließ das Publikum erstaunen. Als der 1,90 Meter große Schiedsrichter Edgar Blüher abpfiff, brach Jubel bei den Süddeutschen aus. Zum zweiten Mal wurde der Kronprinzenpokal gewonnen. Die Süddeutschen waren zuvor keineswegs der Favorit gewesen, denn die Berliner stellten mit der Berliner TuFC Union 1892 immerhin den amtierenden deutschen Meister und Rekordmeister mit drei Titeln und zwei Vizemeisterschaften. Der Berliner „Rasensport“ schwärmte nach dem Finale: „Schnelligkeit, Technik, Schuss, Platzieren, Sichverstehen, Uneigennützigkeit, sowie schnelles Erfassen und Ausnützen der sich bietenden Chancen: alle diese Eigenschaften sind in hohem Maße vorhanden. Und man wünschte sich: Wenn dass doch unsere Leute auch so könnten!“
18. Februar 1912, Endspiel um den Kronprinzenpokal
Süddeutschland – Berlin 6:5 (3:2)
Süddeutschland: Kieferl (Wacker München), Paul Kühnle (Stuttgarter Kickers), Willi Gros, Julius Hirsch, Gottfried Fuchs, Fritz Förderer, Ernst Hollstein, Max Breunig (alle KFV), Karl Wegele (Phönix Karlsruhe), Fritz Höfler (FV Kaiserslautern), Karl Burger (Fürth)
Tore: 1:0 ? (1. Minute), 1:1 Fuchs (12.), 1:2 Förderer (18.), 1:3 Hirsch (28.), 2:3 Kugler (33., Elfmeter), 2:4 Fuchs (53.), 3:4 Worpitzky (60.), 3:5 Fuchs (69.), 3:6 Hirsch (70.), 4:6 Krüger (80.), Worpitzky 5:6 (84.).
Union-Sportplatz in Mariendorf, Berlin, Zuschauer: 6000.
Schiedsrichter: Edgar Blüher (Leipzig)