

Ein Text von Thomas Alexander Staisch
Es taucht in keiner deutschen oder gar internationalen Statistik auf, dabei ist das Lokalderby Karlsruher FV gegen Phönix Karlsruhe eines der meistgespielten Deutschlands. Allein von 1896 bis 1952 (dann wurde der KSC geboren) trafen die Erzfeinde 130 Mal aufeinander. 59 Spiele gewannen die Schwarzroten, 39 die Schwarzblauen, insgesamt fielen 481 Tore, also fast vier Tore pro Spiel. Obwohl der KFV häufig als Favorit galt, sprechen die Zahlen auch eine andere Sprache: „1906 und 1907 war es endgültig aus mit der Aschenbrödelstellung und jetzt gab es kein Pardon mehr! Von Oktober 1907 bis März 1910 konnte der KFV uns nicht bezwingen!“, jubelte die Phönix-Chronik. Kaum ein Match endete ohne spektakuläre Tore, Verletzungen, Platzverweise, Massenbesuche, Abbrüche 150 Sekunden (!) vor Spielende oder gar manipulierte Spielgeräte. So bedeutete das Halbfinale um die Deutsche Meisterschaft am 1. Mai 1910 (1:2 für den späteren Meister KFV) mit „6000 bis 8000 Zuschauern“ im Stadion an der Telegrafenkaserne einen deutschen Rekord.
Abbildung: „Bedeutendstes Ereignis“: Anzeige in der „Süddeutschen Sportzeitung” für das Derby KFV-Phönix am 3. Oktober 1910, das die Schwarzroten 2:1 gewannen, Quelle: Thomas Staisch.
Wer den Führer beleidigt
Angefangen soll alles am 1. Mai 1898 haben: Damals war der KFV gegen Phönix FV auf dem legendären Engländerplatz angetreten. Phönix-Kapitän Beier, der „eiserne Arthur”, war gerade nach Karlsruhe zurückgekehrt und hatte seine Mannen auf das Spiel gegen den berühmten Lokalrivalen eingeschworen. Viele Kicker fand Beier nicht vor: Krankheit, Eintritt beim Militär, Wegzug und Angst vor Niederlagen (!) hatten die Spielerschaft arg dezimiert.
Es war noch kein echtes Derby, da die Schwarzroten KFVler in den vorangegangenen Jahren zu überlegen waren, aber es wurde ein historisches Match: Beim Stand von 1:2 verließen die Beier-Schützlinge geschlossen das Feld, „wegen Beleidigung des verdienstvollen Führers von Phönix“ (wie die Vereinschronik später stolz verkündete). „Mit einem Schlag hatte sich die Atmosphäre dieser Begegnung geändert: Bisher eine mehr oder minder sichere Sache für den ‚Verein’, nun auf einmal ein hartnäckiger Kampf“, schreibt Joseph Michler über den spektakulären Abbruch. Das badische „Superclasico“ war geboren.
Eine echte Nebelgranate
Einen handfesten Skandal hatte das Derby am 8. Dezember 1912 zu bieten: Das Spiel wurde beim Stand von 2:1 für Phönix vom Schiedsrichter Phillip Bruckner wegen Nebels abgebrochen („Alles ist erstaunt und läuft erregt ins Spielfeld!”) – ganze zweieinhalb (!) Minuten vor Schluss. Der Ligaausschuss wetterte danach, dass „das Spiel trotz des Nebels wohl auch noch die letzten 2 ½ Minuten verfolgbar war, denn wir können nicht annehmen, dass der Ball plötzlich unsichtbar geworden ist!“ Zudem wurde der Schiri kritisiert, der die Pause eigenmächtig um fünf kostbare Minuten verlängert hatte, weil sich Frieder Förderer vom KFV Klötzchen auf die Stiefel schlagen musste.
Abbildung: Derby Phönix-KFV am 14. Januar 1912. Bildunterschrift im „Fussball“: „Eine Szene, die typisch ist für den hartnäckigen Kampf zwischen den beiden Meistern, zeigt diese eigenartige Aufnahme. Beier, der Mittelläufer von Phönix, hält einen Vorstoß von KFV-Stürmer Hirsch auf, wobei Hirsch versucht, den Ball über den Gegner hinwegzubringen“. Fußball-Experte Michler schrieb über das Match beeindruckt: „Das schönste Spiel, das ich je gesehen!“ Der KFV siegte 1:0, ein zweites Tor von Fuchs wurde wegen angeblichen Handspiels nicht gegeben – ein Foto in der „Illustrierten Sportzeitung” („Fuchs drückt den Ball mit der Brust an Fitterer vorbei ins Netz”) scheint aber dem Mittelstürmer Recht zu geben, Quelle: Thomas Staisch.
Der Pfeifenmann hatte sich gerechtfertigt, dass „Anstand und gute Sitten eine Verlängerung verlangt hätten”, da der KFV behauptet habe, Förderer sei verletzt und müsse verbunden werden. Ein Reporter hatte später sogar nachgerechnet, dass exakt 22 Minuten Zeit vor dem Spiel und in der Pause „verschenkt” worden seien – vor dem Match sei z.B. die „photografische Aufnahme der Mannschaften” schuld gewesen.
Und noch ein Nachspiel: Die nachgeholte Begegnung am 9. Februar 1913 wurde vor 3.000 Zuschauern zum Schicksalsspiel für beide Mannschaften. Der KFV griff nach der Meisterschaft, bei Phönix ging es gegen den Abstieg. Es wurde wie immer ein turbulentes Derby, das die Schwarzblauen mit 2:0 (1:0) durch Tore von Reiser und Firnrohr gewinnen konnten. Die Highlights: Wegele verschoss einen Elfmeter, Phönix spielte lange mit zehn Mann, weil sich Karth bei einem Sturz verletzte und KFV-Star Förderer rastete komplett aus. „Neumaier und Itta, zwei äußerst faire und körperlich nicht starke Leute, wirft er zu Boden, ohne dass sie überhaupt mit dem Ball in Berührung kommen!”, erboste sich der „Fussball”-Reporter. Nachdem Strafstöße (also Freistöße) „gegen so ein Spiel nichts mehr fruchten”, wird Förderer des Feldes verwiesen.
Abbildung: Eckball für den KFV: Eines der wenigen Derbys, die auf dem Papier einen klaren Sieger fanden – der KFV gewann am 4. Dezember 1910 nach ausgeglichenem (!) Spiel und vor 4.000 Zuschauern deutlich mit 6:2 („Illustrierte Sportzeitung“). KFV-Goalie Franz Burger machte sich daraus einen Scherz. Auf einer Postkarte, die ihn alleine und offensichtlich gelangweilt im Tor zeigt, schrieb er später: „Umstehende Aufnahme wurde während des Spiels gegen Phönix gemacht, hieraus kannst Du ersehen, wie viel ich zu halten bekam!”, Quelle: Thomas Staisch.
Das erste öffentliche „Faul”
Es verwundert nicht, dass ein alltägliches Gerangel im Karlsruher Giganten-Gipfel sogar zu einer noch nie dagewesenen Medienschlacht im deutschen Fußball führen sollte. Denn nach einem Zweikampf zwischen Max Schwarze (KFV) und Ernst Karth (Phönix) beim 2:2 im „Privatpokalspiel“ am 16. Juni 1912, das zudem von Orkan und Regen geprägt war, brach nicht nur ein Sturm der Entrüstung aus – zum ersten Mal wurde eine Schiedsrichterentscheidung auch öffentlich diskutiert und „analysiert“. Im Spiel hatte der Referee jedenfalls gepfiffen und Strafstoß verhängt, den der KFV sicher verwandelte.
Möglich wurden die tage- und in der Presse seitenlangen, zum Teil hitzig geführten Wortgefechte von Spielern, Zuschauern und Schiedsrichtern durch den bis dahin im deutschen Fußball praktisch noch nie eingetretenen Fall, dass die strittige Situation auf einem Foto festgehalten worden war. Die selbsternannten Experten störte es dabei wenig, dass der berühmte „Beweis“ beinahe jede Deutungsmöglichkeit zuließ: Der Fußball-Fan freute sich, endlich einmal ernsthaft mitreden zu können – selbst wenn er gar nicht im Stadion gewesen war!
Abbildung: Aus dem Skandalspiel: Karth (re., noch unschuldig) beobachtet eine „Bravourleistung des Phönixtorwächters: Hirsch brachte es fertig, dass Fitterer den Ball zweimal fallen ließ, aber die Geistesgegenwart des Torwarts, der sich schließlich am Boden wälzte, rettete den Ball dennoch!“, Quelle: Thomas Staisch.
Die Meinungen klaffen dann auch zwischen „Karth stoppt ganz regulär den Ball, kein Elfmeter“, „Schwarze hakt Karth von hinten ein und bedrängt ihn mit der linken Faust, Freistoß gegen KFV“, über „erlaubtes Anrennen von der Seite, weder Frei- noch Strafstoß“, „Karth springt direkt auf Schwarze los, 11-Meter-Ball“, „beide Teile schuldig, Hochwurf!“, „Schwarze hätte sich Knöchel und Arm brechen können, Platzverweis für Karth“, „Schwarze fällt durch ungeschickte Wendung oder den nassen Boden, kein Elfmeterstoß“, „Karth klemmt mit seinem linken Knie den Fuß von Schwarze fest, Elfer“ bis „Schwarze ist durch Zufall etwas gefährlich aussehend gestürzt, kein Regelverstoß“ meilenweit auseinander. Der bemitleidenswerte Schiedsrichter des Spiels war übrigens August Falschlunger, nicht nur ein eilig herbeigerufener Ersatzreferee (der, weil der offizielle Schiri nicht erschienen war, in „Kavalierskleidung“ einspringen musste), sondern ein aktiver Spieler des Freiburger FC, der 1907 Deutscher Meister geworden war. Bei der ominösen Szene hatte Falschlunger laut Medienberichten eine sehr unglückliche Figur abgegeben: Zuerst hatte er gepfiffen („Das Publikum rät, was wohl los sein mag“), dann KFV-Spieler Max Breunig, der den Ball bereits frech auf die „Strafmarke“ gesetzt hatte, die Kugel wieder weggenommen, daraufhin sekundenlang unentschlossen auf der Stelle verharrt, zum „Niederwurf“ (also Hochball) angesetzt, schließlich aber – obwohl die KFV-Spieler bereits resigniert in ihre Hälfte getrottet waren – doch den Elfmeter gegeben! Als es dem armen Schiri nach all der Medienschelte dann zu bunt wurde, ließ er eine fast ganzseitige Stellungnahme im „Fussball” abdrucken. Inhalt: Der Elfmeter wäre berechtigt und die mindeste Strafe gewesen.
Die gleiche Zeitung beendete die Dauer-Diskussion schließlich mit dem ewig schönen Schlusssatz: „Es bleibt jetzt nur noch die Frage offen, wie der Vorgang sich abgespielt hat.”
Kurz zum Spiel: Wegen der vielen Fans (und des Sturms?) erst 20 Minuten nach 17 Uhr angepfiffen, wogte das Spiel lange auf und ab – „großartige Leistungen beiderseits rissen die Zuschauer zu lautem Beifall hin”. Erst nach der Pause konnte Phönix durch einen schönen Sololauf von Oberle das 1:0 erzielen, aber schon fast im Gegenzug brachte der mysteriöse Elfmeter den Ausgleich durch Breunig. Der KFV, in Person von Elfmeter-Protagonist Schwarze, ging schließlich mit 2:1 in Front, doch mit Leibolds Schuss acht Minuten vor Schluss („Das nasse Leder entgleitet dem sich blitzschnell hinwerfenden Torwächter”) endete das dramatische Derby noch 2:2 unentschieden.
Ein Sonntagnachmittag in Karlsruhe
Eine schöne Liebeserklärung an die Fußballstadt Karlsruhe und an das wichtigste Spiel war 1910 in der „Illustrierten Sportzeitung“ unter der romantischen Überschrift „Ein Sonntag-Nachmittag in Karlsruhe“ zu lesen: „Einige Tausend Einwohner der badischen Residenz verbringen den Sonntag-Nachmittag regelmäßig bei den Fussball-Wettkämpfen, die von September bis Mai stattfinden. Alle Bevölkerungsschichten und Altersstufen sieht man bei diesen Wettspielen, Mitglieder des regierenden Hauses, der staatlichen und städtischen Behörden besuchen sie, die Tagespresse berichtet ausführlich über den Verlauf der Kämpfe. Karlsruhe nimmt von jeher eine hervorragende Stellung im deutschen Fussballsport ein, seit in Deutschland Associations-Fussball gespielt wird, hört man von den vollendeten Leistungen Karlsruher Mannschaften. Karlsruhe ist die Wiege des deutschen Fussballsports und wenn früher der KFV allein der Gradmesser war für die Bewertung des Könnens deutscher Mannschaften, so teilt der Verein diese Ehre jetzt mit dem Deutschen Meister, Phönix. Heute finden alle Wettspiele auf geschlossenen Plätzen statt und die Zuschauer entrichten gerne die zwischen 50 Pfennig und drei Mark schwankenden Eintrittspreise.
Zum Miträtseln das berühmte Beweisfoto ist oben abgebildet.
Finden zwei erstklassige Spiele statt, so wird eines um das andere ausgetragen und viele Zuschauer laufen nach Beendigung des einen Spieles im Sturmschritt zu dem beträchtlich entfernten anderen Platz, um auch das andere Spiel anzusehen. Die Ausdehnung einer solchen Bewegung ist sehr erfreulich und gewiss fördernswert, nachdem dieselbe für alle Beteiligten den Aufenthalt in frischer Luft mit sich bringt.“
Der Jahrhundertschuss
Wie spektakulär ein Sieg im Derby damals war, zeigt eine Anekdote um Emil Oberle. Als der Phönix-Nationalspieler – damals schon lange in der Türkei wohnhaft – in den 40er Jahren zufällig zu Gast bei seinem Phönix im Wildpark ist, wird der zurückhaltende Mann von Zuschauern erkannt und zu einer einmaligen Jubeltour genötigt: Im schnell organisierten Automobil wird er in einer Ehrenrunde um den Platz gefahren – just bis zu der Stelle, an der er vor Jahrzehnten mit einem einzigen Schuss zur Legende wurde. Obwohl nicht mal das Spielfeld dasselbe ist (die Schwarzblauen haben den Platz an der Rheintalbahn schon lange aufgegeben), muss er nachspielen, wie er am 19. Dezember 1909 gegen den KFV zum Held wurde. Vor einer „Riesenzuschauermenge, die das Spiel mit leidenschaftlichem Interesse verfolgte“ („Illustrierte Sportzeitung“) hatte der linke Außenstürmer vier Minuten vor dem Abpfiff „das siegbringende und für den weiteren Verlauf der Ligaspiele so bedeutende Tor“ erzielt – durch einen fulminanten 40-Meter-Schlag (damals eine ungeheuerliche Weite). „Oberle hatte aufs Tor gebombt und den Sieg herausgeschossen“, jubelte man noch 1957 auf einem Toto-Lotto-Sammelbildchen. Insgesamt fünf recht wacklige Fotos des großartigen Spiels – der einzigen Niederlage des KFV in der gesamten Saison – haben die Zeit überdauert, das Jahrhunderttor ist leider nicht darunter.







Einige mitgereiste KFV-Fans und Angehörige feuerten die Schwarz-Roten im anschließenden Spiel im Stadion an. Nach der Partie wurden Wimpel und Geschenke ausgetauscht. Im Stadionrestaurant „Eleven“ speisten beide Mannschaften schließlich zusammen.
Wolfgang Ade, Koordinator der KFV-Traditionsmannschaft, organisierte die Reise der Karlsruher in die Schweiz. „Wir danken den Senioren 40+ des BSC Young Boys Bern/Wyler für das tolle und faire Freundschaftsspiel“, so der frühere Spieler und Trainer des KFV. „Das komplette Bern-Wochenende war ein unvergessliches Erlebnis“. Rüdiger Herr – stets eng in Kontakt mit Ade – organisierte auf Seiten der Berner Veteranenelf das Freundschaftsspiel.
„Siewe Brot“ – oder wie Phönix einmal in der 3. Halbzeit über den KFV siegte
Die sportliche Erzfeindschaft zwischen den Schwarzblauen und den Schwarzroten in Karlsruhe wurde „zelebriert“ – das zeigt jedenfalls eine Geschichte aus den KSC-Vereinsnachrichten. Bei einem Derby „der alten Rivalen“ auf dem Phönix-Platz brüllen der „lange Rieger-Karle“, eingefleischter Phönixler, und Zeitungsreporter August Müßle, heimlicher KFV-Fan, hinter dem Tor abwechselnd für ihre Mannschaften. Bei den „Einschlägen“ rufen sie „Goal, Goal!“ bis sie heiser sind und beschimpfen sich liebevoll („Norr langsam, du Schornsteinmodell. Abwarde!“). Das Spiel endet unentschieden und nach einer Stunde Fußmarsch durch den Hardtwald geht’s zum Essen ins „Zum Moninger“ (Kaiserstraße 142/144) – dem offiziellen KFV-Stammtisch. Müßle berichtet: „Karle bestellte ‚zweimal Nudle mit Gulasch un (Hand aufs Herz!) siewe Brot! Er wurde im Handumdrehen fertig, stellte dann zufrieden fest: ‚Der Phönix hat doch g’siegt!‘ “
Für einen handfesten Eklat sorgte übrigens Phönix-Nationalspieler Karl Wegele beim Derby gegen den KFV, die „als Apostel des richtig englischen Fußballspiels“ galten, – gerade, weil er am 5. Dezember 1915 nicht spielte! Die Medien hatten sich nach dem Spiel über die „unwahre Werbung“ beschwert, die viele zusätzlichen Zuschauer angelockt hatte. Was war Unerhörtes passiert? Der KFV hatte als Veranstalter angekündigt, dass auch die Kriegsheimkehrer und Phönix-Stars Wegele und Karth auflaufen würden, was allerdings nicht stimmte.
Abbildung: Kein Durchkommen beim Jahrhundertmatch am 1. Mai 1910: KFV-Förderer (g.li.) wird „durch das Dazwischentreten von Arthur Beier etwas aufgehalten“, seine Phönix-Kollegen Ernst Karth und Robert Neumaier müssen nicht eingreifen, Gottfried Fuchs (g.re.) steht im Abseits, Quelle: Thomas Staisch.
Der KFV wehrte sich später in einem öffentlichen Schreiben, in dem er clevererweise erklärte, man habe nur geschrieben, dass Wegele und Karth „zur Zeit auf Urlaub weilen und an diesem Spiel teilnehmen dürften“. Was einigermaßen korrekt war, da Ernst Karth (neben Beier) zumindest unter den Zuschauern entdeckt worden war. Streit hin oder her: Das Publikum kam voll auf seine Kosten, sah elf Tore – und einen 8:3‑Kantersieg der Schwarzblauen.
Abbildung: Spielankündigung zum Lokalderby (1908 und 1946). Quelle: Thomas Staisch und KFV-Archiv.
Die Redaktion der Webseite führte 2017 ein Interview mit Thomas Staisch (Fußballhistoriker aus Karlsruhe). Mit seinem Buch “Die Deutschmeister” erschien die erste Publikation über die Fußballmeistermannschaft des Stadtrivalen FC Phönix Karlsruhe, welche 1909 den Titel gewann:
Herr Staisch, Sie arbeiten zurzeit an einem Projekt über den FC Phönix Karlsruhe, einem der Fusionsvereine des heutigen KSC. Wie sind Sie auf die Idee gekommen und wie steht es um das Geschichtsbewusstsein des heutigen KSC?
Als Journalist, Fußball-Fan und nicht zuletzt als Karlsruher war ich enttäuscht, dass es über die Deutsche Meisterschaft von 1909 – immerhin der größte Erfolg des KSC – kaum oder widersprüchliche Informationen und gerade mal zwei, drei historische Aufnahmen gab. Über die Spieler war so gut wie nichts bekannt. Das wollte ich ändern. Vorläufiges Ergebnis: Ich habe hunderte unbekannte Fotos der „Phönixler“, der Mannschaft und sogar aus dem Endspiel selbst gefunden, natürlich ebenso viele Spielberichte, habe noch lebende Angehörige der Helden von 1909 interviewt und auch Original-Dokumente wie Mitgliedsausweise oder Eintrittskarten entdeckt. Das ist spannend, da der KSC bekanntlich kein eigenes Archiv besitzt – und somit jeder Fund eine kleine Sensation bedeutet. Natürlich habe ich dabei auch KFV-Schätze entdeckt: So hat Phönix-Verteidiger Robert Neumaier ein Tagebuch hinterlassen, das einige (lilafarbene!) Original-Eintrittskarten enthält – von seinen Besuchen beim „Nebenbuhler“ an der Telegrafenkaserne.
Dem KSC geht es wie vielen anderen Clubs, bei denen ich recherchiert habe: Die momentane Lage und vor allem aktuelle Probleme lassen kaum Platz für eine Aufarbeitung der Vereinschronik. Dass mein Projekt aber wichtig für die Blauweißen, die Fans und die Stadt sein kann, zeigt ein kleines Beispiel: Seit Jahren haben hiesige Medien das Thema „Phönix“ zumeist mit einem großformatigen Schwarzweiß-Foto der stolzen Helden illustriert – peinlich nur, dass es sich dabei ausgerechnet um die Mannschaft der Stuttgarter Kickers von 1908/09 handelt.
Was hat der KSC, gegründet 1952, noch mit seinen beiden Fusionsvereinen, vor allem dem FC Phönix, gemeinsam?
Die Gemeinsamkeiten halten sich natürlich in Grenzen – wenn ich mein Forschungsobjekt (Phönix zwischen 1893-ca.1918) mit dem aktuellen Verein vergleichen soll. Ganz banal: Phönix spielte zur Meisterschaft in Schwarzblau gestreift (anfangs gar in Karomustern, später mit dem „Phönix“ auf der Brust), ohne echten Trainer, ohne Ersatzbank, ohne Sponsoren, jahrelang ohne eigenen Platz, dafür mit 11 Fußball-Heroen, die ihr letztes Geld, ihre ganze Freizeit und ihre ganze Kraft in den Club investiert haben. Eine derartige Opferbereitschaft und Leidenschaft wäre heute nicht mehr vorstellbar – ein Bruchteil davon würde aber jeder KSC-Mannschaft gut tun. Bekannt ist ja: Mühlburg brachte seine starke Mannschaft, Phönix den Platz im Wildpark in die Fusion ein. Aber um das nicht zu vergessen: Phönix war zu seiner Glanzzeit eine der besten Mannschaften des Kontinents, stellte Nationalspieler und dominierte mit den Spielern des KFV zusammen jahrelang sowohl den Kronprinzenpokal („Vorläufer“ des DFB-Pokals) als auch die Ländermannschaft – das ist mit der Situation 2012/13 einfach nicht zu vergleichen.
Was waren die größten Unterschiede zwischen den beiden großen Fußballklubs, FC Phönix und KFV, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Was Erfolge, Berufungen in die Nationalmannschaft, internationale Beziehungen und Zuschauerzahlen angeht hatte der KFV die Nase vorn?
Eins vorweg: Es ist ein Jammer für ganz Fußball-Deutschland, dass es diese Duelle nicht mehr gibt! Und noch ein zweites: Bei meiner Recherche bin ich auf so viele unglaubliche, ja filmreife Gipfeltreffen zwischen den Schwarzroten und den Schwarzblauen gestoßen, dass ich vorhabe, dem „Badischen Superclasico“ ein Extra-Projekt zu widmen. Die Ausgangslage war bekannt: Der KFV (früher nur respektvoll „der Verein“ genannt) war die Übermannschaft, der FC Barcelona dieser Jahre, dem aber durch viel Pech und Unvermögen die Krönung versagt geblieben war. Still und heimlich war dann ausgerechnet in der gleichen Stadt ein Rivale (tatsächlich wie „Phönix“ aus der Asche!) empor gestiegen, der auch prompt Deutscher Meister wurde – ein besondere Demütigung für den KFV. Obwohl das viele KFVler vielleicht nicht wahrhaben wollen, war das Derby, das eine ganze Stadt spaltete, oftmals ein Duell auf Augenhöhe, das selten einen klaren Sieger kannte. In der ewigen Bilanz ist natürlich der KFV deutlich überlegen, aber der Phönix blieb z.B. von Oktober 1907 bis März 1910 vom KFV unbesiegt. Sportlich ist interessant, dass beide Spielsysteme ihre Anhänger hatten: Der KFV mit seiner sehr schlagkräftigen, effizienten Stürmerreihe („in ihren bauschigen weißen Blusen wie Schwäne auf den Fluten treibend“), der Phönix mit seinem technisch brillanten Flügelspiel über die schnellen „Nationalflügel“ Wegele und Oberle.
Wie war das Verhältnis der beiden Vereine KFC — KFV?
Die vielen heißen Kämpfe (man sagte: „scharfe Spiele“) lassen vermuten, dass sich auch die Spieler von KFV und Phönix gehasst haben müssen, was natürlich nicht der Fall war. Man kannte sich aus zig gemeinsamen Spielen – außer der Nationalmannschaft gab es ja auch Pokalspiele, Städtespiele, Privat- und Propaganda(=Werbe)Spiele – und respektierte einander. „Seine Gegner, insbesondere den KFV, nahm er nie persönlich, sondern rein sportlich, sachlich“, wird über Phönix-Kapitän und Legende Arthur Beier berichtet – der übrigens (das zum Thema Rivalität) bis 1898 sogar einige Male vom KFV „ausgeliehen“ wurde! Beier gründete kurioserweise auch den „KFV“ – allerdings den Kieler FV. Und später waren z.B. der bekannte „Phönix-Internationale“ Karl Wegele und der geniale KFV-Mann Fritz Förderer nicht nur in der Nationalmannschaft, sondern auch in anderen Auswahlspielen ein Dreamteam. Zudem glaube ich, dass es nicht nur an den guten Manieren der damaligen Zeit lag, dass sowohl 1909 als auch 1910 der jeweils unterlegene Stadtkontrahent als erster und mit Lorbeerkranz zur Meisterschaft gratulierte. Richtig ist aber auch, dass sich beide Vereine bei den berühmt-berüchtigten Stadtduellen – die Fußballfans in ganz Deutschland und halb Europa in den Bann zog – mit allen legalen und einigen illegalen Mitteln bekämpft haben.
Im Februar 2005 schrieben Sie im 11Freunde-Magazin einen mehrseitigen Artikel über den KFV mit der Überschrift „Sturz der Kaiserlichen“. Ein Jahr später wurde das KFV-Vereinsheim abgerissen. Wie beurteilen Sie die Entwicklung von 2005 bis heute? Was hat sich verbessert was muss der KFV in der Zukunft noch liefern?
Wenn man die Lage im Jahr 2005 betrachtet, ist es ein kleines Wunder, dass es den KFV nicht nur wieder gibt, sondern, dass er wächst und gedeiht. Dazu war sicher viel Engagement, Geduld und Hingabe nötig – Respekt! Das Interessante am KFV ist: Er muss keine Tradition erfinden wie z.B. Hoffenheim, sondern sich vielleicht nur selbst neu erfinden, was ein Stück weit schon getan wurde. Was noch fehlt, ist ganz einfach: Ein eigene Spielstätte, am besten natürlich der alte, legendäre Platz an der Telegrafenkaserne! Er hat immer noch einen sagenhaften Ruf: Als ich kürzlich mit dem (fußballbegeisterten) Chefredakteur einer polnischen Zeitung auf das Thema KFV kam und ihm sagte, dass das Gelände an sich immer noch existiert, plante er für seine nächste Deutschland-Visite sofort einen Besuch der Anlage ein!
Welche Anekdote und welche Persönlichkeit des KFV ist Ihnen bei der Beschäftigung mit dem Verein im Rahmen Ihrer Recherchen, besonders in Erinnerung geblieben?
Im Zuge meines Projekts gab es natürlich viele schöne Geschichten rund um den KFV zu entdecken – also dürfen auch KFV-Fans auf das Buch gespannt sein! Unabhängig davon, dass ich sehr gerne einmal ein Spiel der alten Heroen wie Hirsch, Fuchs oder Förderer live gesehen hätte und sie alle beeindruckende Kicker waren, hängt mein Fußballer-Herz an Max Breunig. Er wurde geliebt und gehasst, hat nicht nur durch seine Körpermaße („Beine wie Baumstämme“) alle überragt. Aber dass der „starke Max“ – um nur einige Kuriositäten zu nennen – den Ball auch bei wichtigen Spielen rückwärts mit der Hacke dribbelte und „Indianertänze“ um seine Gegner ausführte, Phönix 1910 aus knapp 70 Metern (!) eine „Freistoß-Bombe“ ins Netz setzte (was deutscher Rekord bedeutet hätte, wenn der Treffer gezählt hätte), für die „Illustrierte Sportzeitung“ schon mal auf einer ganzen Seite als griechischer Modellathlet im knappen Höschen posierte, beim Olympia-Match 1912 gegen Ungarn nicht eingesetzt werden konnte, weil er sich beim Diskus-Training verletzt hatte, aber gleichzeitig Seele und Herz des KFV und auch der Nationalmannschaft war – das alles macht ihn zu einer vielschichtigen, faszinierenden Sportler-Persönlichkeit.
Sie sind in Karlsruhe aufgewachsen – wie haben Sie den KFV in dieser Zeit wahrgenommen?
Aus zweierlei, völlig unterschiedlichen Blickweisen: Zum einen hat mir mein Opa immer wieder von der guten alte Zeit – die Geschichte des gefälschten Telegramms kannte ich bald auswendig – und den großen Triumphen des „KV“ erzählt (obwohl er eigentlich ein Mühlburg-Anhänger war), zum anderen stand ich als jugendlicher Fußballer öfters auf dem Platz, wenn es gegen den damals noch übermächtigen KFV ging – meistens hat es mit einer deftigen Schlappe geendet!
Einige mitgereiste KFV-Fans und Angehörige feuerten die Schwarz-Roten im anschließenden Spiel im Stadion an. Nach der Partie wurden Wimpel und Geschenke ausgetauscht. Im Stadionrestaurant „Eleven“ speisten beide Mannschaften schließlich zusammen.
Wolfgang Ade, Koordinator der KFV-Traditionsmannschaft, organisierte die Reise der Karlsruher in die Schweiz. „Wir danken den Senioren 40+ des BSC Young Boys Bern/Wyler für das tolle und faire Freundschaftsspiel“, so der frühere Spieler und Trainer des KFV. „Das komplette Bern-Wochenende war ein unvergessliches Erlebnis“. Rüdiger Herr – stets eng in Kontakt mit Ade – organisierte auf Seiten der Berner Veteranenelf das Freundschaftsspiel.






Der älteste Film im deutschen Fußball – und das Spiel des Jahrhunderts

Von Thomas Alexander Staisch
Der Film, der Anfang Juni 2013 auftaucht, dauert nur ganze zwei Minuten und 14 Sekunden – ist aber eine echte Sensation. Denn die holprigen Schwarzweiß-Aufnahmen sind stolze 103 Jahre alt und zeigen ein deutsches Fußballspiel in bewegten Bildern! Und das kam so: Als der Autor Thomas Staisch routinemäßig das Archiv des „British Film Instituts“ (BFI) in London durchforstete, entdeckt er einen nicht für möglich gehaltenen Eintrag: „Fussballwettspiel um die Deutsche Meisterschaft in Karlsruhe i.B. am 1. Mai 1910“. Der Satz stellt die bisher bekannte Fußballgeschichte auf den Kopf, denn die frühsten Aufnahmen deutscher Kicker sollen laut DFB, Bundesarchiv u.a. von 1923 und 1924 stammen – und zeigen Länderspiele gegen Holland (0:0) und Italien (0:1). Der Journalist fliegt nach Großbritannien, lässt sich die 35-Millimeter-Rolle ausheben und vorführen. Die Überraschung ist perfekt: Der Streifen ist echt, er zeigt tatsächlich knapp 21 Szenen aus dem berühmten Halbfinalspiel zwischen dem KFV und Phönix.
Unabhängig von der sporthistorischen Bedeutung lassen sich anhand des „Schatzes“ auch die Daten des spektakulären Spiels beweisen – oder widerlegen. So bestätigen die Aufnahmen erstmals nicht nur den Zuschauerrekord, sondern auch die Existenz von Torrichtern (in wichtigen Begegnungen): In mehreren Szenen ist ein „Linesman“ in Zivil und mit weißer Fahne zu erkennen, der neben dem Goal seinen Dienst tut. Außerdem scheint selbst die „Legende von den zwei Blasen“ wahr zu sein: Denn auf den Bildern schlagen selbst ausgezeichnete Techniker unter den Spielern mehrmals wild über den eigenartig hoppelnden Ball.
Und wie wurde der Film (ca. 54 Meter Länge, 16 Bilder pro Sekunde) gedreht? Auf der Höhe eines Strafraums (von der KFV-Tribüne aus gesehen beim rechten Tor) wurde eine einzige Kamera platziert: Kamen die Spieler dann aufs Tor gelaufen, wurde gefilmt – sonst nicht. Bei den Produzenten des Sensations-Streifens handelt es sich vermutlich um die Kaufleute Bernhard Gotthart, Franz Wenk, Franz Steiger und Oscar Köchler, die den Film in ihrem Kino, dem „Welt-Kinematograph“ (1906 eröffnet) in Freiburg und wahrscheinlich auch anderen Lichtspieltheatern vorführten. Auch die Vorgeschichte des Films ist jetzt bekannt: Der Streifen kam von Freiburg per Schenkung oder Verkauf zur berühmten Sammlung des Schweizer Jesuitenpaters und Filmpioniers Abbé Joye (1852–1919), der ab 1900 Vorführungen veranstaltete und 1906 in Basel das erste Filmtheater („Kino Borri“) des Landes eröffnete. Er hinterließ tausende teils verschollen geglaubte Titel, alle auf Nitratbasis, die hochsensibel zu handhaben waren. Grund: Filme mit Nitrozelluloseträger haben eine höhere Sprengkraft als Schwarzpulver und fallen heute unter das Bundessprengstoffgesetz. In den 1970er Jahren wurde beschlossen (da die Schweizer nicht in der Lage waren, die Filme sicher zu lagern), die Sammlung nach Großbritannien zu transportieren und beim „National Film Archive“ in London (zu dem das BFI gehört) Sicherheitskopien anzulegen. Und warum sind nur knapp zwei Minuten statt der damals üblichen acht oder neun Minuten erhalten geblieben? Eine mögliche Lösung könnte mit dem italienischen Historiker Davide Turconi zu tun haben, der bereits in den 60er Jahren versuchte, alle Joye-Filme zu retten. Als er feststellte, dass dies nicht möglich war, entschloss er sich zu einer verzweifelten Maßnahme: Er schnitt aus den Filmen einzelne Stücke heraus, um wenigstens diese Fragmente der Nachwelt zu erhalten. Am Ende sollen es 20.000 „Schnipsel“ gewesen sein, zu denen auch der Karlsruher Film gehört haben könnte
Das Spiele der Spiele
Nüchtern betrachtet traf der Karlsruher FV im Halbfinale um die Deutsche Meisterschaft am 1. Mai 1910 auf Phönix Karlsruhe, gewann im heimischen Stadion an der Moltkestraße mit 2:1 und zog ins Endspiel ein, wo er Holstein Kiel mit 1:0 besiegte und Deutscher Meister wurde. Doch das Match war mehr als das – schon die Filmaufnahmen beweisen das. Es war das Duell der Meister, das Legenden-Derby, das Jahrhundertspiel, das Rekordmatch. Zwischen 6.000 und 8.000 Zuschauer sollen gezählt worden sein: „Es war die größte Zuschauerzahl, die je bei einem Wettspiel zwischen deutschen Mannschaften gesehen wurde“, vermeldete die „Illustrierte Sportzeitung“. Sie schrieb, dass „der Endspielgegner von Holstein Kiel in jedem Fall die Fußballhochburg Karlsruhe stellt: KFV, der so oft verhinderte Meister oder Phönix, der sich aus der Asche des Außenseiters zum erbitterten und als Vorjahresmeister erfolgreichen Konkurrenten erhoben hat“. Und: „Das Interesse ist außergewöhnlich und es steigerte sich noch, weil das Resultat entscheiden wird, ob der bisherige Meister oder der Meister von Süddeutschland am Entscheidungsspiel um die Deutsche Meisterschaft teilnimmt. Man schätzt den KFV und Phönix mit Recht als die beiden besten deutschen Mannschaften!“ In „Deutschlands Fußball-Meister“ ist zu lesen: „Nur über den gewaltigen Rivalen ging also der Weg des KFV. Der Zusammenprall dieser Karlsruher Nebenbuhler zur Zeit ihrer größten Machtentfaltung gehört zu den denkwürdigsten Geschehnissen der Fußballgeschichte. Das erbitterte Ringen endete mit dem knappen 2:1‑Sieg des KFV. Der Deutsche Meister hatte weichen müssen, doch der stolze Titel sollte dennoch in Karlsruhe bleiben.“ Josef Michler dichtete: „Diese vorentscheidende Begegnung mit seinem schärfsten Widersacher galt als die in Wirklichkeit schwerste Prüfung des deutschen Fußball-Jahres 1909/10. Ein tiefblauer Himmel, so blau wie die Teilstreifen auf den Phönix-Trikots, wölbte sich über einem der wildesten, zugleich aber fairsten Fußball-Wettkämpfe, die je stattfanden!“ Und legte noch eins drauf: „Stolz tragen die Anhänger ihre Vereinsfarben weithin sichtbar als Strohhutband, schwarzblau Phönix, schwarzrot der KFV. Es ist eine Rivalität, die die ganze Stadt beherrscht – und sollten Sohn und Tochter zweier so gegensätzlich eingeschworenen Fußballfamilien in heimlicher Liebe entbrennen, so könnte es wie ein Motiv aus Romeo und Julia anmuten.” Bezeichnend auch, was der „Fussball“ nach der Begegnung schrieb: „Der Name Karlsruhe bedeutet ein Programm im deutschen Fußballsport, ihn umgibt der Nimbus des Vollendeten, Erreichten, wenn er in Verbindung mit den fußballsportlichen Ereignissen gebracht wird“.
Die Protagonisten: Der KFV spielte mit Dell, Hübner, Holstein, Ruzek, Breunig, Schwarze, Tscherter, Förderer, Fuchs, Trump und Hirsch, Phönix mit Dr. Göltz, Karth, Neumaier, Firnrohr, Beier, Heger, Wegele, Noe, O. Reiser, Kasper, Oberle. Schiedsrichter war Willi Rave aus Hamburg, und da die Partie so wichtig war, wurden sogar Torrichter (die öfters und wortwörtlich „einen auf den Deckel” bekamen) und Linienrichter aufgeboten (die es offiziell schon seit 1891 gab). Einer der „Assistenten“ hieß Geppert – ob es allerdings Karl Geppert war, Ex-Phönix-Spieler und Ehrenvorsitzender der Schwarzblauen, ist unbekannt.Geheimnisvolle Verletzte – und ein Protest
KFV-Stürmer Trump hätte die Spiel entscheidende Figur des insgesamt vierten Duells der Stadtrivalen im Jahr 1910 (Phönix hatte zuvor zwei Begegnungen gewonnen, der KFV eine) werden können – und wurde es dann doch nicht. Der Krimi: Bereits nach 14 Minuten musste der Angreifer verletzt vom Feld: „Dem körperlich starken Halblinken Trump passierte ein Missgeschick, das damals Sehnenzerrung genannt wurde. Der schussgewaltige Mann brach zusammen und schied gänzlich aus. Da noch fast 80 Minuten zu spielen waren, kann sich jeder leicht ausmalen, was diese Schwächung für den Titelanwärter ausmachte!“, so Michler. Mysteriöserweise berichten andere Quellen, dass auch Phönix das Match nicht komplett beendet haben soll – Läufer Adolf (und wohl nicht Emil) Firnrohr soll das Opfer gewesen sein. Die „Illustrierte Sportzeitung“ beharrte auf Version eins: „Der KFV war genötigt, fast das ganze Spiel mit zehn Mann durchzuführen, da sein halblinker Stürmer nach den ersten 15 Minuten aussetzte, aber auch Phönix war geschwächt, da er für seinen famosen Mittelstürmer Leibold Ersatz einstellen musste“. Das Drama um Trump ging noch weiter: Nach dem Match legte Phönix (erfolglos) Protest beim DFB ein – Trump sei nicht spielberechtigt gewesen.
Ein Schauspieler im Kasten, zwei „falsche Einser” und ein Zaubertor
Besonders für KFV-Torwächter Adolf Dell sollte das Derby eine echte Nervenschlacht geben: Über den sensiblen Goalie, der nach seiner Karriere als bekannter Bühnenschauspieler (unter Gustaf Gründgens!), Film- und Fernsehstar sowie preisgekrönter Maler im Rheinland gefeiert wurde, ist jedenfalls bekannt, dass er später im Finale vor Aufregung – laut eigenen Angaben – „halb ohnmächtig“ geworden ist. Und dass er sich gegen Phönix zur Verstärkung zwei Feldspieler mit ins Tor (!) holte. Kein Witz: „In der letzten so kritischen Viertelstunde wurde die Torsicherung mit allen Schikanen wie Menschenmauer, drei Mann im Tor oder Läuferstürmer vorgenommen“, berichtete Michler in seinem Buch „Mittelläufer spielen auf“. Und ergänzte: „Der KFV hatte bei einem Strafstoß Breunig und Hübner, diese zwei Riesengestalten, neben dem gleichfalls stattlichen Dell ins Tor genommen. In 99 solcher Fälle lohnt sich eine derartige Anordnung!“ Doch in der 67. Minute trat der unwahrscheinliche 100. Fall ein: Obwohl der KFV das Tor verrammelt hatte, schoss Phönix den Anschlusstreffer. Und das kam so: „Wirklich versperrten auch die drei Hüter fürs erste dem ganz verwegen gedrehten Ball den Zutritt. Aber, schlecht zu fassen wie die trudelnde lederne Nudel war, kam sie einem Bumerang gleich nochmals aufs Tor zurück. Und bevor die im Torraum zusammengezogenen übrigen KFV-Streitkräfte oder einer der drei Torwächter dem Ball nahekamen, der seitlich des rechten Pfostens gegen die Torlinie zurollte, schoss ein Blau-Schwarzer heran. Es war der rötlich leuchtende Arthur Beier, der, seinen Stürmern voraus, vom eigenen Überschwang fortgerissen, mit einem Bein fast außerhalb des Spielfeldes stand. Er hatte gerade noch soviel Kraft, zu bremsen und sich herumzureißen, schwang das andere Bein aus, traf den Ball. Und aus dieser unmöglichen Stellung neben dem Pfosten ward der Ball auch ins Netz gehakt!“
Das Phantom-Tor
Vom spektakulären Match findet sich in Chroniken und Zeitungen ein wiederkehrendes Motiv: Das Bild zeigt das 2:0 für den KFV. Und auch die Bildunterschrift ist immer die gleiche: „Ein denkwürdiger Augenblick: K.F.V. hat ein Tor erzielt (Fuchs mit dem Ball im Tor)“. Die Folge war, dass in den meisten Abhandlungen über das Spiel bis zum heutigen Tag Goalgetter „Gotti“ Fuchs als Torschütze geführt wird. Die Wahrheit ist aber: Fuchs hat sicher 1000 Treffer erzielt, diesen aber nicht! Denn tatsächlich hatte Verteidiger Hans „Bock“ Ruzek (der laut Michler eine Nase „wie ein riesiger Papageienschnabel“ gehabt haben soll) den armen Dr. Göltz mit einem Weitschuss (damals ein „langer Schuss“) überrascht, der im Strafraum lauernde Fuchs war nur durchgelaufen – vielleicht, um auf Nummer sicher zu gehen oder das Goal hinter der Linie gebührend zu feiern. Beweise für das Distanztor gibt es zu genüge, auch Augenzeuge Neumaier hatte in seinen Tagebüchern berichtet: „Zu Halbzeit führte KFV durch einen ungerechten Elfer und ein Leichtsinnstor von Freund Gölz (Schuss von 20–25 Meter)“. Kurioserweise hielt das viele Reporter nicht davon ab, von „Gottis“ Traumtor zu schwärmen: „Im rasenden Kampf lagen die KFVler durch Tor-Einlauf Fuchs’ vorne. Sein Vordringen über das halbe Spielfeld von ‚Ottl’ Reiser an über Karth, Neumaier bis zu Göltz im ewig denkwürdigen Vorschlussspiel, dieses Hinfliegen, diese Ballbehandlung, konnte ihm niemand nachmachen“ – so Josef Michler, dem man aber zugute halten muss, dass er seine Zeilen erst 20 Jahre nach dem Match zu Papier brachte.
Das Bild des Jahrhunderts
Das Match war auch aus fotografischer Sicht herausragend: Existierten bei „gewöhnlichen“ Spielen der Kaiserzeit entweder gar keine Aufnahmen oder nur Mannschaftsbilder, so waren Bilder der Tore eine absolute Sensation. Dass vom Derby gleich neun Fotos überliefert sind und zwei der drei Treffer für die Ewigkeit festgehalten worden waren, beweist die Einzigartigkeit der Begegnung. Der Eindruck wird auch dadurch nicht geschmälert, dass das 1:0 durch Breunig ein („unheimlich scharfer“) Elfmeter war – und sich die Fotografen also hatten vorbereiten können.
Übersichtsbilder wie diese, von den Zeitungen gerne „Spezialaufnahmen“ genannt, genossen damals Seltenheitswert. Bedanken musste man sich bei den Kletter- und Fotografierkünsten eines Redakteurs namens Eugen Seybold. Der Fußballfan war bei dem Jahrhundertspiel auf das Dach der KFV-Tribüne und des Klubhauses gekraxelt und hatte die sensationellen Bilder für die „Illustrierte Sportzeitung“ geschossen. Später gab er als Verleger die Sportzeitung „Fussball“ heraus. Weil er dort regelmäßig dafür sorgte, dass „seine“ Karlsruher Mannschaften nie zu kurz kamen, haben hunderte historisch einmalige Aufnahmen von KFV und Phönix überlebt – und wurden noch Jahre nach der Glanzzeit des Karlsruher Fußballsports stolz abgedruckt. So zeigte der „Fussball” noch 1922 und 1940 ein Bild, dass seinesgleichen sucht. Zum ersten Mal wurden auf einem Foto (fast) alle Spieler eines Matches abgelichtet! „All die bekannten Spieler in taktisch vorbildlicher Kampfaufstellung“ gab den Journalisten nun die Möglichkeit, die Szene einer ausführlichen Analyse zu unterziehen. Dass es sich bei dem „packenden Augenblick“ und „Dokument aus klassischer Fußballzeit zweier Deutscher Meister“ nur um einen Einwurf von Robert Heger handelte, war dabei nicht so wichtig.
Die Legende von den zwei Blasen
Die aufsehenerregendste und gleichzeitig schönste Geschichte des Spiels ist die so genannte Legende der zwei Blasen. Obwohl der KFV vor dem Derby als Favorit galt, konnte sich die Karlsruher Bevölkerung laut Medienberichten nicht auf einen Sieger festlegen: „Jeder kann gewinnen, der Ball ist rund!“, so die allgemeine Aussage. Doch damit hatten sich die Fans getäuscht: „Dieser spezielle Ball vom 5. Mai ist nicht rund. Er enthält zwei Blasen, eine davon aufgepumpt und gleicht so einem Rugbyei“, will Fußballexperte Josef Michler („Ein komischer Ball!“) mit Bestimmtheit wissen. Und er kennt die Folgen: „Die meisten Phönixler waren furchtbar erregt und brachten mit dem unberechenbar, doppelmannshoch aufspringenden Ball ganz verdrehte Schläge heraus, da sie vor lauter Hast das Stoppen vergaßen. Ein Nachteil weniger für den KFV-Flachpass als für Phönix’ hohes Flügel- und Kopfballspiel. Tatsächlich verfehlen die gefürchteten Flanken der Nationalflügel Oberle und Wegele verhältnismäßig häufig ihr Ziel!“ Und auch der „Fussball“ berichtet: „Wegele, der sonst so exakt flankte, brachte den funkelnagelneuen Ball nicht hoch, Karth fabrizierte ungewohnte Kisten, während das Townley-System [„stoppen, schauen, zuspielen“ statt „hart und weit schießen“] unter solchen Ballnauben naturgemäß weniger litt.“
Über den weiteren Verlauf des Skandals gibt es zwei Fassungen: Michler schreibt, dass das Publikum und die Phönix-Spieler „stürmisch, laut und anhaltend Ersatz“ forderten – und bekamen. Aber auch dieses Spielgerät hätte geeiert: „Es kam ein zweiter Ball, um nichts normaler!“, berichtet auch die Phönix-Chronik. Im „Fussball“ wird erzählt, dass der Schiedsrichter den Ball einer Prüfung unterzog, für gut befand und mit dem alten Spielgerät weitermachen ließ. Und obwohl das Ei „bis zum Ende“ bzw. „bis zum Abpfiff“ im Einsatz gewesen sein soll, kann damit eigentlich nur die erste Halbzeit gemeint gewesen sein. Die Phönix-Verantwortlichen gaben dem Ei gar die Schuld für den Treffer zum 2:0: „Das zweite Tor war direkt belustigend, wäre nicht so viel auf dem Spiel gestanden. Ein schwacher Schuss, ein harmloser Roller. Im Augenblick, wo Göltz ihn aufnehmen will, schlägt der schalkhafte Ball einen Haken und setzt seinen Weg ungefährdet in die rechte untere Ecke fort!“ Wahr ist jedenfalls, dass die Phönix-Anhänger KFV-Trainer Townley aufs Korn nahmen: „Englische List und Tücke!“, protestierten sie. Zudem machte sich ein schwarzroter Kicker verdächtig: Der erfahrene Hans Ruzek, „ein notorisch trickreicher Spieler“, schnappte sich nach dem Spiel „in großer Eile“ den Ball und brachte ihn unter dem Arm ins Clubhaus – und entzog ihn so einer späteren Kontrolle. Bezeichnend ist vielleicht auch, dass KFV-Star Tscherter den Absatz über den getürkten Ball in seiner eigenen Zeitungsausgabe zwar extra rot angestrichen, aber keine Widerworte o.ä. an den Rand notiert hatte.
Und während die Phönix-Chronik den Betrug offen ansprach („Heute wissen wir, dass in dem in diesem Spiel verwendeten Ball eine zweite Gummiblase war und er dadurch exzentrisch und viel zu schwer gemacht wurde“) baut die KFV-Chronik auf ausgleichende Gerechtigkeit: „Mag diese Behauptung stimmen oder nicht, es wird wohl – wie das gefälschte Telegramm – ein ewig unlösbares Rätsel bleiben“.
Erregte Spieler, „Nerven-Erschütterungen“ – und ein Thronwechsel
Der Rest vom Spiel ist schnell erzählt. Die Reporter erkannten eine „begreifliche Erregung der Spieler“, ein „verrückt aufregendes und aufgeregtes Match“, „eine Menge Einzelheiten, die guter englischer Amateurklasse gleichgestellt werden können“ sowie einen KFV, der „vor der Pause durch geradezu wunderbare Leistungen seinem Gegner sehr hart zusetzte“, ein „halbstündiges Bombardement“ abfeuerte und dass dies, zusammen mit der „hervorragenden Verteidigung des Phönix“, zu einem „glanzvollen Fußballwettkampf“ führte, der „oft durch den begeisternden Beifall des Publikums unterbrochen wurde.“ Nach Abklingen der durch den getürkten Ball verursachten „Nerven-Erschütterung“ und „Panik“ der Phönix-Spieler „gelang ihnen, die sonst so blendende Kombination des Gegners zu zerstören und mit der ihnen eigenen Pfeilgeschwindigkeit dem anderen Tor entgegenzustreben!“ Der KFV geriet ins Schwimmen: „Wenn andere Mannschaften vor Bedrängnis und deren Abwehr Schweißströme vergossen, dann hat KFV hier Blut geschwitzt. Doch verließen ihn selbst dann die Kräfte und die ruhige Selbstbeherrschung nicht, als Phönix durch ‚Vater’ Beier seinen Torvorsprung kürzte.“
Der „Thronwechsel unter den Karlsruher Meistern“ (Michler) rückte näher – und wurde zum „heroischen Kampf von zehn KFV-Spielern“ (KFV-Chronik). „Phönix griff wohl zum Schluss noch an, als kämen Meereswogen daher. Allein Förderer verteidigte als sogenannter fliegender Läufer und schlug mit einer Vehemenz die Bälle zurück, dass sich nur noch die Arbeit Holsteins damit vergleichen ließ, wenn er, in der Luft stehend oder liegend, drei Angreifer mitzutragen hatte und doch die Bälle wegbrachte. Tscherter [der die Kunst des „Umschweifens“, also den Ball am Gegner vorbeilegen, perfektioniert haben soll] und Fuchs schafften durch Einzelläufe über dreiviertel der Spielfeldlänge vorübergehend Luft. Trotzdem war der Schlusspfiff eine Erlösung für den KFV!“, liest man im „Endspiel-Fieber“. Und auch Neumaier musste in seinem Tagebuch anerkennen: „Nach Halbzeit hatten wir das Spiel ganz in der Hand, konnten jedoch gegen zu feste Mauern des KFV nicht gleichziehen.“ Als der KFV später Meister wird, ist die Rivalität schon fast vergessen: „Ein ethischer Höhepunkt war, als unter den ersten Telegrammen noch am Abend ein Glückwunsch des Altmeisters und Lokalrivalen ‚FC Phönix’ einlief“, freute sich die KFV-Chronik.